Florian Kern
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
11. März 2013

Die europäischen Kriege im Zeitalter Napoleons brachten mit ihren Armeen, Kampagnen sowie den gewonnenen und verlorenen Schlachten auch das Problem von Kriegsgefangenen mit sich. Selbst Napoleon blieb das Schicksal der Kriegsgefangenschaft nicht erspart. Mit seiner Verbannung auf die Insel Sankt Helena wurde er am Ende selbst zum letzten und prominentesten Kriegsgefangenen der vergangenen Koalitionskriege. Allerdings weiß man heute in der Geschichtswissenschaft mehr über die Kriegsgefangenschaft Napoleons als über die zahlreichen Kriegsgefangenen der napoleonischen Kriege.

Napoleon selbst hatte in den Jahren 1805/06 die Definition von Kriegsgefangenschaft, die erstmals 1793 vom französischen Konvent per Dekret fixiert worden war, verändert. Der französische Kaiser erklärte alle Personen zu Kriegsgefangenen, die unter den Fahnen des Feindes aufgegriffen wurden, egal ob sie als einfache Soldaten oder als Zivilisten angetroffen wurden. Diese neuere Definition betraf während der Empirekriege somit auch sämtliche mit den Armeen ziehenden Händler, Frauen und Kinder. Egal wen die Kriegsgefangenschaft ereilte, ob aktiv oder passiv, sie bedeutete in Zeiten, in denen es noch keinen international festgelegten und völkerrechtlich verpflichtenden Kodex im Umgang mit Kriegsgefangenen gab, einen Weg in eine ungewisse Lebenssituation.

Allgemein gesehen bilden Beiträge zur Alltags-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte des Krieges im napoleonischen Zeitalter bis heute eher die Ausnahme als die Regel. Nach wie vor stehen die Themenfelder der Politik-, Diplomatie- und klassischen Militärhistorie im Zentrum der Napoleonforschung. Ein wichtiges Forschungsdesiderat ist somit auch die Geschichte der Kriegsgefangenen jener epochalen Umbruchzeit, die bisher meist nur am Rande, als statistisches Element zur Verdeutlichung von Siegen bzw. Niederlagen eine Erwähnung findet. So liegt bisher keine Arbeit vor, die das Problem der Kriegsgefangenschaft im Rahmen der Kriege, die Napoleon von 1805-1815 gegen Preußen, Russland und Österreich auf deutschem Boden führte, systematisch untersucht. Folglich ist über den theoretischen Rahmen und die militärische Praxis im Umgang mit Kriegsgefangenen von preußischer, österreichischer und französischer Seite als auch von den deutschen Verbündeten Napoleons, den Rheinbundstaaten, nur wenig bekannt. Fragen zur Situation von Kombattanten, Frauen und Kindern in der Hand des Feindes, zum Erlebnis der Gefangennahme, dem Transport in die Verwahrung, dem Leben und Überleben im Gewahrsam des Feindes sowie der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft bleiben in der reichhaltigen Literatur über die napoleonische Epoche überwiegend unbeantwortet.

Die Dissertation will diese Fragen beantworten. Das zu untersuchende Territorium bildet dabei zum einen der deutschsprachige Raum als ständiges Basis-, Durchzugs- und Kampfgebiet der Grande Armée, ihrer Fremdtruppen sowie der preußischen und österreichischen Streitmächte. Zum anderen ist aber auch Frankreich selbst als Verbringungsort für napoleonische Kriegsgefangene ein nicht zu vernachlässigender Untersuchungsraum.

Die Studie basiert auf einer breiten und aufwendigen Quellenarbeit für den zu untersuchenden Zeitraum. Zum einen ist es für das Thema notwendig, rechtlich-normatives sowie quantitatives Quellenmaterial zu erschließen. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um militärbezogene Ordnungen, Mandate, Verfügungen, Armeebulletins, Gefangenentabellen, Vermisstenlisten und Gefängnisregister. Zum anderen gilt es qualitative Quellen zu eruieren, dazu zählen Polizeiberichte und Selbstzeugnisse von Militärangehörigen bzw. betroffenen Nichtkombattanten, wie Briefe, Tagebücher sowie retrospektive Kriegserinnerungen, Biografien und Memoiren. Im Rahmen einer quellenkritischen Analyse gilt es die unterschiedlichen Quellengattungen in Verbindung zu setzen, um weiteren Aufschluss über Theorie und Praxis der Kriegsgefangenschaft im napoleonischen Zeitalter zu bekommen. Hierdurch soll die seit Langem bestehende Forschungslücke zur Kriegsgefangenschaft während des Ersten Kaiserreichs weiter geschlossen, und aus historischer Perspektive neue Befunde über den Prozess der humanitären Entwicklung in modernen Gesellschaften während und nach langen Kriegszeiten herausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang will die Dissertation durch die unerlässliche Verknüpfung von Militär-, Sozial-, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte auch einen längst praktizierten, modernen Methodenansatz innerhalb der Geschichtswissenschaft weiter vorantreiben.

Die Dissertation wird von Prof. Dr. Erich Pelzer (Ordinarius Neuere Geschichte, Universität Mannheim) betreut. Ein Forschungsaufenthalt in Frankreich (Service historique de la Défense, Archives Nationales) wurde durch das Deutsche Historische Institut Paris gefördert. Die Verwirklichung des Projekts wird zurzeit durch ein Landesgraduiertenstipendium des Landes Baden-Württemberg ermöglicht. Die Arbeit soll im Jahr 2012 ihren Abschluss finden. Florian Kern Erstveröffentlichung im Newsletter des AKM Nr. 36

Epochen: 
Perspektiven: