Timo Ennen
Miszelle
Veröffentlicht am: 
20. September 2012

 

„Nun zeigen Sie, dass Sie von mir nicht nur Theorien gelernt haben, und vergessen Sie nicht, dass alle großen Dichter auch anständige Kerle waren“ [1]. Diese letzten Worte gab der damals schon populäre Literatur- und Theaterwissenschaftler Artur Kutscher, der zu seinen legendären Exkursionen und Autorenabenden Größen wie Frank Wedekind und Joachim Ringelnatz empfing, seinem - sich beim Feldartillerieregiment Nr. 40 gemeldeten - Studenten Edlef Köppen („Heeresbericht“) im Sommer 1914 kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs mit. In ihnen kommt der alte Topos vom gespaltenen Weltverhältnis der Dichter und Denker zum Ausdruck, der sich dann in der Einsicht einer höheren Verschränktheit von vita activa und vita contemplativa wieder aufhebt. Waren hundert Jahre zuvor gerade die Universitäten Geburtsstätten des antinapoleonischen Widerstands, so galt es auch jetzt die mittlerweile angewachsene Zahl gebildeter, junger Männer für den ideologischen wie kriegsalltäglich-praktischen Kampf nutzbar zu machen. Tatsächlich waren patriotische bis aggressiv-nationalistische Gefühle „bei Studierenden und Angehörigen der Mittel- und Oberschichten sehr viel verbreiteter als bei solchen aus Arbeiterfamilien. Letzteren waren Gedanken an die eigene Familie, an das bevorstehende Abenteuer, an die Möglichkeit, einem tristen Arbeitsalltag zu entfliehen […], endlich in die Ferne reisen zu können, viel wichtiger“ [2].

Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“ geben einen Einblick in das Verhältnis junger Studenten zur Literatur angesichts einer physischen wie psychischen Ausnahmebelastung. Sie geben eine Ahnung davon, wie die jungen Soldaten Schrecken und Tristesse des Kriegsalltags mit dem geistigen Erbe ihres bisherigen Studiums bzw. ihrer privaten Lektüre verwalten – exemplarisch zugespitzt anhand ihrer Reflexionen über Poesie und Prosa in Konfrontation mit den Kriegserlebnissen. Die Feldpostsammlung ist dabei freilich jenseits einer analytischen Naivität nicht nach ihrer realhistorischen Aussagekraft, sondern gerade angesichts ihrer „arrangierten Authentizität“ [3] immer schon als intentionale Darstellung zu befragen. Grundlage dieses Textes ist die auflagenstarke fünfte Edition von 1928.

Im Sturmgepäck trugen die Soldaten als handliche Ausgaben von Reclam oder Insel-Verlag z.B. die homerischen Epen, Hölderlin, Schiller, den „Zarathustra“, Rilkes „Cornet“ und viel Goethe bei sich. Ein Student berichtet, wie er vermöge der „nationalen Bibel der Belgier“, De Costers „Till Eulenspiegel“, sich die Kultur Flanderns erschließt, vor allem aber vor dem Hintergrund seines dortigen Einsatzes ein „Vertrautsein mit der Umwelt des Buches, das […] den Leser dem Verständnis seiner Eigenart näher rückt“ (152), bemerkt.

Mit Abstand die meisten Bezugnahmen verbucht jedoch die Bibel. In diesen enthüllen sich beide der oben konstatierten Muster. Sie fungiert also zugleich als tröstender Kommentar zum Kriegsgeschehen, wie „der Gang der Weltgeschichte einen praktischen Kommentar“ (108) zum heiligen Buch und damit eine Überschreitung der bloß wissenschaftlichen Erforschung leistet. Bibelstellen werden zur Beruhigung an die Eltern und mahnend an sich selbst gerichtet. Ein Student erhält sich in der täglichen Konsultation der Schrift „die Harmonie im Gefühl und Gedanken“, „das seelische Gleichgewicht […] [um] alles zu überstehen, was Nervenkraft erfordert“ (198).

Insbesondere Theologiestudenten setzen sich angesichts ihrer persönlichen Erfahrungen wie der weltgeschichtlichen Entwicklungen intensiv, mitunter bis zur Verzweifelung, mit ihrem Glauben auseinander. In der Gruppe sind Bibelbezüge als Gottesdienst oder Weihnachtsgeschichte, weil keine höhere Bildung voraussetzend, identitätsstiftend. Hier kulminieren Erinnerungen an die Heimat, die alle sozialen Grenzen und am Weihnachtsfest 1914 nahezu Feindesgrenzen überbrücken. Manch einer nimmt Notiz von einer erhöhten Frömmigkeit und Einkehr im Volk, die keinen Raum für Spötter lässt (29-31). Auch existiert die Hoffnung einer „Vertiefung der Religion“ (93) nach Kriegsende. Momente des Zusammenschweißens der Studenten, auch mit dem, „was man früher Proleten nannte“, emergieren jenseits von Gebet und Weihnachtsgeschichte im gemeinsamen Singen der „Vaterlandslieder, Soldatenlieder und Choräle“ – „Frivolitäten kommen [dabei] kaum mehr vor“ (33). Der Abgestumpftheit des Soldaten scheint einiges zu widersprechen, wenn „das Auseinandersetzen mit dem Tod“ direkt ins Hoheitsgebiet des Gebildeten zielt: „Religion – Philosophie. Fast alle versuchen, sich damit auseinanderzusetzen“ (128).

Ein sich bis 1918 durchziehendes Motiv ist das eines vitalistischen Literaturkonzepts, nach dem sich die hermeneutische Durchdringung eines Textes erst vermittels des Kriegserlebnisses ergibt. Der Studierstube bleibt folglich eine Glorifizierung, wie sie Familie, Volk und Heimat zukommt, versagt. Eher plagen den Studenten Zweifel, ob der Zeitvergeudung und Selbstentfremdung, die er zuweilen im Studium erkennt. „Ich sehe den Tod und rufe dem Leben. Wenig geleistet hatte ich in meinem kurzen Leben, das doch meist mit Studium angefüllt war“ (56). Wer „bisher nur auf der Schulbank gesessen und gutes und dummes Zeug gelernt“, beklagt ein Student, hat damit eben noch „nichts geleistet, nichts geschaffen“ (103) und mit dieser Ernüchterung steht er nun schon am wahrscheinlichen Ende seines jungen Lebens.

Der faustische Pakt tauscht gegen die Tristesse der Schulbank freilich bloß einen Dezisionismus, in dem es wenig weltanschauliche Inhalte braucht, der vielmehr auf abenteuerliche Verzückung aus ist. Wie in Reinhard Goerings expressionistischer Kriegstragödie „Seeschlacht“ (1917) „sind nicht bestimmte politische Inhalte entscheidend, sondern die Aktivität als solche“ [4]. Die „Vertiefung des Todesgedanken“ – auch als Leitmotiv von Witkops Edition – kulminiert in der Annahme, dass „sich der Traum vom Leben offenbar nur in seiner Zerstörung erfüllt und mit dem Tode bezahlt werden muss“ (243). Mit dieser Prämisse ist der Übergang zu dem, was Manfred Hettling „den besonderen Bedeutungsüberschuß“ nennt, „welcher in Deutschland der Vorstellung vom Tod fürs Vaterland und vom patriotischen Opfer seit dem frühen 19. Jahrhundert zukam“ [5], evidenterweise nicht mehr fern.

In eine ähnliche Richtung geht ein Brief eines Studenten, der im Sommer 1916 seinen Vater mit der Frage: „Wie soll ich einmal vor meinen Schuljungen stehen, ihnen etwas von Schiller und Körner und Geschichte erzählen, ohne jeden Augenblick lügen zu müssen“ (209), um die Erlaubnis bittet, sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Der Student Otto Braun zitiert Homer und schließt an: „Ich freue mich riesig darauf, wieder die Gesänge der Ilias zu lesen, und ich glaube, nun werde ich sie noch viel besser verstehen“ (344). Kurz darauf ist aus der Hand eines Freundes zu lesen, dass Braun bei einer improvisierten Beerdigung „in die dunkle Nacht Verse der Ilias“ (Ebd.) sprach. Endlich konstatiert er: „Die Stimmung um die Toten wurde heroisch durch Ottos Sprache“ (345).

Über mehrere Briefe hinweg setzt sich ein anderer Student mit Fichtes 1808 veröffentlichten „Reden an die deutsche Nation“ auseinander, an dessen nationalistischem und antisemitischem Impetus er sich wenig stört. Witkop räumt diesem Marburger Theologiestudenten mit zwölf Seiten auffällig viel Platz ein. „Während das Ausland an seinem Fetisch, an irgendwelchen Dingen hängt“, geht es dem deutschen Heer „letztlich um eine Menschheitskultur […], wie sie tiefer und wahrer kein anderes Volk hervorgebracht hat“ (170). Die Sublimierung des primitiven Lebenstriebes in größere Sinnzusammenhänge und (nicht unmittelbar christliche) Ewigkeitsvorstellungen des Theologiestudenten sind paradigmatisch für einen Großteil der Autoren. Auch wenn das Jahr 1918 bei Witkop mangels entsprechenden Rohmaterials unterrepräsentiert ist, lässt sich verallgemeinern, dass weltgeschichtlicher Fatalismus und Aussichtslosigkeit im späteren Verlauf des Krieges speziell solche Ansichten „sub specie aeternitatis“ (314) nähren.

Doch auch zu Beginn beruhigt z.B. „die alte Theorie von der Allseele, in der die Einzelseele aufgeht“ (14) einen Soldaten, der auf den Pantheismus Goethes rekurriert. „Für Dichtung, Kunst, Philosophie, Kultur geht ja der Kampf“ und damit bleibt er tragisch, „aber groß“ (19). Auch mit Goethe lassen sich Vanitas-Motive problemlos in ein Pathos des Heldentodes überführen: „Und solang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde. Bist du nur ein trüber Gast, auf der dunklen Erde“; trübe Gäste sind dann zuvorderst die Theatergänger in der Heimat, „die lachen und witzeln, indes ihre Kämpfer und Schützen leiden und bluten und sterben“ (346-347).

Neben Goethe und Fichte ist es nicht zuletzt die nietzscheanische Lebensphilosophie, die die jungen Männer beeindruckt und dessen „Zarathustra [ihnen ein] Begleiter“ (196) ist. Ein Student berichtet offensichtlich wohlmeinend von seinem zähen und ausdauernden Kompanieführer, dessen „Ansicht, dass das Christentum für die Schwachen ist, die sich ohne dieses nicht zur Verachtung der Todesfurcht, zur treuen Pflichterfüllung aufschwingen können“ (36), ihn – so der Autor – als Epigonen Nietzsches entlarvt. 

Dichtung erweist sich in Witkops Sammlung – von vereinzelter Kritik abgesehen – gerade nicht als Desiderat, welches im Kriegszustand keinen Platz findet. Vielmehr finden sich verschiedenste produktive Umgangsformen mit ihr. Zu große Verallgemeinerungen würden die Vielfalt der Selbstzeugnisse verkennen, deswegen konnte diese Arbeit „nur“ ein Panorama möglicher Auseinandersetzungen zwischen Seelsorge und Sublimierung mit verschiedenen Literaturen skizzieren. Dennoch lässt sich ein Gesamteindruck formulieren: Die Texte „dieser jungen tragischen Idealisten“ (6) sind von hohem Pathos und andächtiger Empfindsamkeit gezeichnet und funktionieren für Witkop damit als Dokumente „deutscher Innerlichkeit“. Trivialliteraturen bleiben dann konsequenterweise ebenso wie Bordell-Kultur oder Gewaltexzesse unerwähnt. Die Konzeption Deutschlands „in seinem inneren Werte als Kulturvolk“ (82) entgegen der materialistischen Feinde sollte schon im Krieg auch zur Beeinflussung des neutralen Auslands fruchtbar gemacht werden.

Pietätvoller als die Massengräber der Nachkriegszeit sind die emphatischen „Kriegsbriefe“ allemal. Witkops literarisches Kriegsdenkmal sublimiert die Niederlage und den immensen Blutzoll des Ersten Weltkriegs mit einem Kult des Individuums. Letzteres versetzt sich gerade im physischen Ausnahmezustand in geistige Höhen morbider Schlagseite.

 

Anmerkungen:

[1] Köppen, Edlef: Heeresbericht (1930), München 2005, S. 393.

[2] Segesser, Daniel Marc: Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2010, S. 129.

[3] Hettling, Manfred: Arrangierte Authentizität. Philipp Witkop „Kriegsbriefe gefallener Studenten“ (1916), in: Schneider, Thomas F. (Hg.): Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg, Amsterdam/ New York 2002, S. 51-69.

[4] Sprengel, Peter: Literatur im Kaiserreich, Berlin 1993, S. 242.

[5] Hettling, Manfred, Jeismann, Michael: Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, in: Hirschfeld, Gerhard: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch… Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 175-198, hier S. 175.

 

Timo Ennen, Freie Universität Berlin

 

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