Ein neues Museum am Ort des ehemaligen SS-Sammellagers Mecheln in Belgien
Jakob Müller
Exkursionsbericht
Veröffentlicht am: 
27. Oktober 2014

Die 80 000-Einwohnerstadt Mecheln, international auch unter dem Namen Mechelen bekannt, liegt zwischen den belgischen Großstädten Brüssel und Antwerpen, wo zu Beginn der deutschen Besatzung 1940 mit Abstand die meisten Juden in Belgien lebten. Aufgrund dieser verkehrsgünstigen Lage wurde hier im Sommer 1942 das SS-Sammellager Mecheln eingerichtet, das den Deutschen als Durchgangslager für die Deportation von mehr als 25 000 Juden und 352 Roma nach Auschwitz-Birkenau diente. Die meisten wurden dort direkt nach ihrer Ankunft vergast, nur etwa 1200 überlebten. Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Durchgangslagern, wie dem französischen Drancy oder dem Lager Westerbork in den Niederlanden, verbrachten die meisten Gefangenen nur kurze Zeit in Mecheln. Etwa 18 000 verließen zwischen dem 4. August und dem 31. Oktober 1942 Belgien gen Osten, um dort ermordet zu werden.

Das Sammellager befand sich in einer ehemaligen österreichischen Kaserne aus dem 18. Jahrhundert, die bis 1975 von der belgischen Armee genutzt wurde und am Rand der Innenstadt liegt. Das zweistöckige Gebäude umschließt einen Innenhof, auf dem auch eines der wenigen Fotos aus der Zeit des Lagers aufgenommen wurde (siehe oben). Seit den 1980er Jahren befinden sich hier überwiegend Luxuswohnungen, während ein Flügel des Gebäudes von der Gedenkstätte „Kazerne Dossin“ als “Ort des Erinnerns“ genutzt wird. Ferner sind hier auch Archiv und Bibliothek der Gedenkstätte untergebracht. Die eigentliche Ausstellung befindet sich seit Dezember 2012 in einem vierstöckigen Museumsneubau, der dem historischen Gebäude gegenüberliegt.

Mit der Eröffnung des Neubaus hat sich das Museum zu einem Erinnerungsort von internationaler Bedeutung entwickelt. Diese Tatsache wurde 2014 mit einer „Special Commendation“ (Ehrenpreis) des „European Museum of the Year Award“ gewürdigt, den sich das Museum mit der deutschen Gedenkstätte Flossenbürg teilte. Dies ist insofern bemerkenswert, als die „vergessene Kaserne“1 lange Zeit nicht im öffentlichen Bewusstsein war. Anders als beispielsweise das nur 12 Kilometer entfernte ehemalige Auffanglager Fort Breendonk, das vor allem zur Internierung politischer Gefangener diente und bereits 1947 per Gesetz zur nationalen Gedenkstätte erklärt wurde. An der Kaserne in Mecheln gab es seit 1948 eine Gedenkplatte, aber erst ab 1957 jährliche Gedenkveranstaltungen, die von Überlebenden organisiert wurden.2 Gründe für das lang währende Vergessen dieses Erinnerungsorts waren möglicherweise der relativ kurze Aufenthalt der Gefangenen in der Kaserne Dossin sowie die Tatsache, dass es sich bei der übergroßen Mehrheit der Gefangenen nicht um belgische, sondern um ausländische Staatsangehörige gehandelt hatte. Daneben konzentrierte sich das Gedenken in Belgien - wie in vielen europäischen Staaten - auf die militärischen Widerstandskämpfer. Erst 1970 wurde im Brüsseler Stadtteil Anderlecht, der vor dem Krieg eine große jüdische Bevölkerung besaß, ein zentraler belgischer Gedenkort für die Juden als spezifischer Opfergruppe eröffnet.

Am Ort der Deportationen sollte es bis 1996 dauern, bis das „Jüdische Deportations- und Widerstandsmuseum“ gegründet wurde - allerdings nicht als nationale Gedenkstätte, sondern auf Initiative von Überlebenden und später durch die flämische Gemeinschaft finanziert. Diese Institution war überaus erfolgreich und innerhalb kurzer Zeit über Erwarten gut besucht, sodass die begrenzten Räumlichkeiten bald zu klein für den Besucherandrang wurden. Daneben machte sich das Museum durch die Bewahrung und Erschließung des Quellenmaterials der Judenverfolgung in Belgien verdient. Im Gegensatz zu anderen ehemals von der Wehrmacht besetzten Ländern sind in Belgien fast alle für den Verfolgungsprozess relevanten Dokumente erhalten: Sowohl die lokalen „Judenregister“ als auch die Kartei von Sipo-SD sowie die vollständigen Transportlisten der Züge, die Mecheln in Richtung Auschwitz verließen. Diese waren und sind über zahlreiche belgische Archive verstreut und befanden sich noch Anfang der 1990er Jahre teilweise in schlechtem Erhaltungszustand. Das Jüdische Deportations- und Widerstandsmuseum digitalisierte die Bestände und sorgte für eine säurefreie Archivierung der Dokumente.

Die bereits 2001 beschlossene Überführung des kleinen, sich ausdrücklich als jüdisch verstehenden Museums, in eine staatliche Gedenkstätte ging nicht reibungslos vonstatten. Die Diskussionen um das neue Museum zogen sich bis zur Eröffnung 2012 mehr als zehn Jahre hin. Hierbei spielten inhaltliche und spezifisch belgische Fragen eine Rolle. Inhaltlich ging es vor allem darum, ob sich die Ausstellung auf die Geschichte des historischen Ortes und der Judenverfolgung beschränken oder darüber hinausgehend auch andere Menschenrechtsverletzungen thematisieren sollte. Daneben spielten auch Fragen eine Rolle, die mit der komplizierten Staatsstruktur Belgiens zu tun haben. Obwohl aus Mecheln Juden aus allen Teilen Belgiens deportiert wurden, handelt es sich bei der „Kazerne Dossin“ nicht um eine nationale belgische Gedenkstätte - wie etwa im Falle von Breendonk - sondern um ein dezidiert flämisches Projekt. Eine zeitlang wurde sogar ernsthaft der Titel „Flämisches Holocaustmuseum“ in Erwägung gezogen.

Inhaltlich setzte sich ein Konzept durch, das die Geschichte des historischen Ortes in ein weiter gefasstes Menschenrechtsnarrativ einbetten will. Mit vollem Namen heißt die „Kazerne Dossin“ etwas umständlich „Kazerne Dossin - Gedenkstätte, Museum und Dokumentationszentrum Holocaust und Menschenrechte“. Die aktuelle Ausstellung zeigt nun auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand nicht nur die Geschichte der Verfolgung der Juden, sondern auch jene der Roma. Daneben werden ausführlich die Themen Kollaboration und Widerstand behandelt, wobei auch die Rolle belgischer Behörden thematisiert wird.3 Im Gegensatz zu den ebenfalls von der Wehrmacht besetzten Nachbarländern Frankreich und Niederlande verweigerten die belgischen Behörden weitgehend die Zusammenarbeit mit der deutschen Okkupationsmacht als es um die Judenverfolgung ging. Jedoch gab es auch innerhalb Belgiens Unterschiede: während in Brüssel die Polizei eine Mitarbeit kategorisch verweigerte, arbeiteten die Antwerpener Beamten zunächst mit den Deutschen zusammen. Letztlich mussten jedoch auch in Antwerpen Razzien von den Deutschen selbst bzw. von mit ihnen kollaborierenden Gruppen durchgeführt werden. Daneben gab es in Belgien schon früh jüdischen Widerstand und ein eigens errichtetes Jüdisches Verteidigungskomitee. Am 19. April 1943 gelang es drei Widerstandskämpfern sogar einen Deportationszug aus Mecheln zu stoppen. Dies ermöglichte 236 Deportierten die Flucht. Ausgespart werden in der modern konzipierten Ausstellung auch nicht die dunklen Seiten der Nachkriegszeit, etwa das Schicksal der wenigen Überlebenden in Belgien, die überwiegend Ausländer waren und deshalb nicht die gleichen Rechte genossen wie belgische Verfolgte.

Das Besondere an der Mechelner Ausstellung ist jedoch der Versuch, Verbindungen zu anderen Verbrechen, wie etwa dem Völkermord in Ruanda oder der belgischen Kolonialgeschichte, herzustellen. Dies erfolgt teilweise auf sehr plakative Weise, etwa durch einen einleitenden Film, in dem Mobbingszenen, welche die Diskriminierung eines Übergewichtigen zeigen, mit Fotos von Massenerschießungen deutscher Einsatzgruppen kombiniert werden. Unter dem Titel „Masse“ eröffnet eine Großaufnahme feiernder Festivalbesucher den Teil der Ausstellung, der sich mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und dem Belgien der Zwischenkriegszeit beschäftigt. Diese Sektion der Ausstellung endet farblich abgesetzt mit Fotos heutiger Flüchtlinge in aller Welt. Diese Art der Präsentation wirkt auf den deutsche Ausstellungen gewohnten Besucher recht unzusammenhängend, ja beinahe verstörend. Die Juroren des European Museum of the Year Award scheint jedoch gerade dieses Konzept überzeugt zu haben.

Wie auch immer man das Konzept bewerten möchte, die Ausstellung in Mecheln ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um die Zukunft des Gedenkens und zweifelsohne nicht nur für an der Geschichte Belgiens im Zweiten Weltkrieg Interessierte einen Besuch wert. https://escortstars.ch

  • 1. Saerens, Lieven: Van vergeten naar gegeerd. Dossin en de Joodse herinnering, in: BTNG / RBHC / JBH, 2012, nr. 2/3, S. 138-169. Der Artikel bietet einen hervorragenden Überblick in niederländischer Sprache und findet sich unter http://www.journalbelgianhistory.be/fr/system/files/article_pdf/008_Saerens_Lieven_2012_2_3.pdf
  • 2. Ebd., S. 145 f.
  • 3. 2007 erschien eine ausführliche Studie über die Rolle der belgischen Behörden: Doorslaer, Rudi (Hg.): La Belgique docile. Brüssel 2007. Online: http://www.senate.be/event/20070213-jews/doc/rapport_final.pdf (französisch); http://www.senate.be/event/20070213-jews/doc/eindverslag.pdf (niederländisch)
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