Daniel Gunz
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
22. April 2024
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.22.04.2024

Alexander der Große, Julius Cäsar, Friedrich der Große oder Napoleon Bonaparte sind unbestritten einige der ‚ruhmreichsten‘ Feldherren ihrer Zeit. Zahlreiche queere1 Historiker*innen und Aktivist*innen betonen in gebetsmühlenartiger Weise, dass diese Männer sich laut eigener Aussage sexuell zu Männern hingezogen gefühlt haben sollen.2 ‚Heldinnen‘ finden in diesen Aufzählungen dezidiert keine Nennung. Verweise auf ‚homo‘- oder ‚bisexuelle‘ Menschen in der Vergangenheit sollten aufgrund der spärlichen und oftmals widersprüchlichen Quellenlage kritisch hinterfragt werden. Bei den genannten Arbeiten fehlt zudem häufig eine Kontextualisierung mit den jeweiligen zeitgenössischen Konzepten zu sexuellen Handlungen und Identitäten. In Zeiten der gerichtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen sollte die Nennung großer Namen sensibilisieren und zeigen, dass Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung in die Annalen eingehen und ‚Großes‘ leisten konnten.3 Durch diese historischen Rückgriffe hofften die Betreffenden auf Akzeptanz für nicht heteronormative sexuelle Identitäten in der Mehrheitsbevölkerung.

Spätestens mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in zahlreichen Staaten im 19. Jahrhundert, als eine große Zahl von Menschen aus den jeweiligen Bevölkerungen für das Militär rekrutiert wurde, waren auch Personen betroffen, deren sexuelles Begehren bzw. sexuelle Identitäten nicht oder nur teilweise der heterosexuellen Norm ihrer Zeit entsprochen haben. Für diejenigen, die von diesem Standard abwichen, gab und gibt es eine Vielzahl von Beschreibungen, Bezeichnungen und Kategorien, die Identitäten, Handlungen oder Lebensweisen benennen. Sodomiten, Päderasten, Urninge, Schwule oder Lesben sind einige dieser Begriffe. Im Folgenden werden dieses Verhalten, die vielfältigen Handlungen und Identitäten unter dem Begriff queer subsummiert. Dies geschieht aufgrund der semantischen Pluralität des Begriffs und nicht, um einzelne Gruppen unsichtbar zu machen.4 Ein Anliegen der queer studies ist es, Herrschafts- und Machtverhältnissen zu kritisieren, die sich auf sexuelle und geschlechtliche Ordnungen stützen oder damit begründet werden.5 „Queere Zeitgeschichte macht Geschlecht, Sexualität, Familie und Privatheit als nur scheinbar stabile Sedimente einer heteronormativen Ordnung einsichtig. Sie dekonstruiert und denaturalisiert diese Kategorien, das scheinbar Selbstverständliche wird zweifelhaft.“6

Lange wurden gleichgeschlechtlich begehrende Menschen, die in Armeen und Kriegen gedient haben, von der Historiographie nicht beachtet und das Militär versuchte, sie unsichtbar zu machen.7 Dieser Umstand kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es queere Menschen im Militär gab und weiterhin gibt.8

Eine queere Militärgeschichte hat kein pinkwashing des Militärs zum Ziel, also sich einzelne wohlmöglich berühmte Akteure herauszugreifen und diese als Homosexuelle in unserem heutigen Verständnis zu reklamieren. Ebenso ist es zu wenig, nur über queere Menschen im Kontext des Militärs zu schreiben. Es geht auch um Kulturen und Strategien mit Bezug auf sexuelle Orientierung, Homoerotik und homosoziale Räume sowie intime Erfahrungen zwischen Menschen, die sich selbst nicht als queer definieren würden.9 Die Aufarbeitung der Geschichte queerer Militärangehöriger kann Kontinuitäten und Brüche von Verfolgung, Diskriminierung und Handlungsspielräumen aufzeigen, die bis in die Gegenwart reichen. Im Zentrum des Interesses stehen die Systematiken und Funktionen von Inklusion sowie Exklusion einzelner Menschen oder Gruppen aufgrund ihrer sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität und ihres Verlangens. Durch die Infragestellung eines rein männlichen und heterosexuellen Paradigmas der Institution wird auch die Widersprüchlichkeit vieler selbstauferlegter Werte des Militärs ersichtlich.

Historiker*innen, die queere Geschichte schreiben, sind häufig Anfeindungen ausgesetzt. Vielfach wird behauptet, das Thema sei unwichtig, würde einen nicht repräsentativen Teil der Bevölkerung betreffen oder im Falle von Kriegsveteranen ‚Helden‘ in ein falsches Licht stellen.10 Hinter diesen Argumentationslinien steht vielfach die Intention der Desavouierung von Forscher*innen, die etablierte Meisternarrative in Frage stellen. Historiker*innen sollten, wie es die Historikerin Anna Hájková festhält, hinter „glatte narrative Oberflächen“ schauen, um zu fragen, „wer aus den Narrativen ausgeschlossen worden ist und warum“.11 Dies sollte ein zentraler Anspruch queerer Geschichte sein.

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit Überlegungen zu einer queeren Militärgeschichte. Im folgenden Abschnitt erfolgt ein Forschungsüberblick zu bereits geleisteten Forschungen. Anschließend findet eine theoretisch-methodische Auseinandersetzung mit möglichen Zugängen zu einer queeren Militärgeschichte statt. Ein abschließendes Beispiel zur späten k. u. k. Armee gibt einen möglichen Zugang zu einem Forschungsprojekt.

Forschungsüberblick

Ein wichtiger Anschlusspunkt für eine queere Militärgeschichte stellt die Frauen- und Geschlechtergeschichte dar. Im Oxford Handbook of Gender, War and the Western World since 1600 zeichnet die Historikerin Karen Hagemann ein kritisches Bild der internationalen Militärgeschichte über deren Umgang mit der Geschlechterforschung. Noch im 21. Jahrhundert hätten vornehmlich männliche Militärhistoriker die Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit Bezug auf Krieg und Militär weitestgehend nicht beachtet oder nur in einzelnen Kapiteln über Frauen geschrieben. Gender als analytischer Zugang werde nicht verwendet.12 Auch die deutschsprachige Militärgeschichte sah lange über progressive theoretisch-methodologische Konzepte der Frauen- und Geschlechtergeschichte hinweg.13 Queeren Aspekten erging es ähnlich.

Internationale Forschungsarbeiten, die sich mit gleichgeschlechtlichen Handlungen von Soldaten beschäftigen, wurden seit den 1990er Jahren vor allem von außeruniversitären Historiker*innen publiziert, die keine explizite Militärgeschichte betreiben. Die folgende Aufzählung versucht, wissenschaftliche Tendenzen hervorzuheben, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.  

Zahlreiche Arbeiten beschäftigen sich mit sexuellen Dienstleistungen, die durch Soldaten angeboten wurden.14 In seiner Untersuchung London and the Culture of Homosexuality, 1855–1914 hat der britische Historiker Matt Cook typische Kontexte aufgezeigt, in denen zahlreiche Soldaten sexuelle Handlungen für Geld mit Männern tätigten.15 Von Matt Houlbrook, einem ebenfalls britischen Historiker, wird dieses Phänomen bis in die 1960er Jahre für London nachgewiesen. Sein Fokus liegt auf den Aspekten militärischer Männlichkeit und queerer Sexualität. Houlbrooks Untersuchung beschäftigt sich mit Gardisten, die im 20. Jahrhundert als Verkörperung der britischen Nation, in weiterer Folge als Ideal militärischer Männlichkeit und gleichzeitig Objekt queerer Sehnsucht galten. Dabei verweist Houlbrook auf die Widersprüchlichkeit dieser Punkte und führt zahlreiche Fälle an, in denen Gardisten freiwillig sexuelle Dienstleistungen anboten.16

Für Deutschland im Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit sind die Arbeiten des Historikers Jason Crouthamel zu nennen, der sich mit Sexualität und Militär im Allgemeinen beschäftigte. Er widmet sich unter anderem queerer Sexualität sowie Cross-Dressing17 und den zeitgenössischen Forderungen zur Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen von homosexuellen Männern, die im Ersten Weltkrieg gedient hatten.18

Auf großes Interesse stoßen in den Geschichtswissenschaften öffentlichkeitswirksame Skandale vermeintlich homosexueller Militärs auf. Zu ihnen liegen teils umfangreiche Monografien vor.19 Im Vordergrund steht dabei oftmals das Sensationelle der Fälle, das nur marginal für den Umgang des Militärs mit gleichgeschlechtlich begehrenden Menschen repräsentativ ist.

Den Quellenwert von Militärgerichtsakten zeigte der Soziologe Gert Hekma bereits 1991 mit Bezug auf ‚homosexuelles Verhalten‘.20 Über das 19. Jahrhundert hinweg seien in der niederländischen Armee nur wenige Fälle zu gleichgeschlechtlichen Handlungen aufgetreten. Diese wurden allerdings hart bestraft. Wahrscheinlich, so Hekma, störten sich weder die Soldaten noch die Militärbehörden an ‚homosexuellem Verhalten‘, solange dieses nicht zu schamlos war oder Geschlechterrollen untergrub.21

Weitere teils umfangreiche Studien wurden für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Kanada und Australien vorgelegt, die sich hauptsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit auseinandersetzen.22

Für die deutschsprachige Militärgeschichte ist die großangelegte Studie des Militärhistorikers Klaus Storkmann Tabu und Toleranz. Der Umgang mit Homosexualität in der Bundeswehr 1955 bis 2000 zu nennen. Seine umfassenden Recherchen und Beschreibungen unzähliger Fallbeispiele zum Umgang der Bundeswehr mit (vermeintlich) homosexuellen Männern eröffnen eine thematische Breite, die als Ausgangspunkt für vertiefende wissenschaftliche Untersuchungen zu den von Storkmann benannten Themenfeldern gelten muss.23

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die anglo-amerikanische Forschung bisher als Impulsgeberin für die wissenschaftliche Bearbeitung von queeren Themen im Militär hervorgetan hat. Für den deutschsprachigen Raum dominieren Arbeiten zu großen Skandalen, die allerdings als Einzelfälle nicht repräsentativ für das Leben queerer Menschen im bzw. mit dem Militär sind. Insgesamt liegt der Fokus der meisten Beiträge auf Homosexualität, Männlichkeit sowie sexuellen Dienstleistungen. Zeitlich liegen fast ausschließlich Analysen zu den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts vor.

Diese thematische Verengung sollte aufgebrochen werden. Queere Militärgeschichte kann und sollte eine große Bandbreite an Themen berücksichtigen. Wie die Historikerin Jacqueline E. Whitt erst kürzlich für die Geschichte der US-Streitkräfte kritisch angemerkt hat, mangelt es an Arbeiten zu lesbischen Frauen, Transpersonen und allen Menschen, die sich innerhalb das queeren Spektrums verorten lassen. Außerdem sollte der Zeit vor dem 20. Jahrhundert mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.24 Dem ist mit Blick auf Europa zuzustimmen. Soldat*innen können weiblich und männlich sowie trans- oder intergeschlechtlich sein. Zudem besteht das Militär auch aus zivilen Arbeitskräften. Dieser offensichtlichen Diversität sollte Rechnung getragen werden.

Methodisch-theoretische Zugänge und Ideen zu einer queeren Militärgeschichte

Um queeren Militärangehörigen in der Geschichte Sichtbarkeit zu verschaffen, kann auf verschiedene Kategorien bzw. Modelle zurückgegriffen werden, unabhängig davon, ob mit historischen Dokumenten, Selbstzeugnissen oder oral history gearbeitet wird. Den einen richtigen Ansatz gibt es dabei nicht, der Zugang zu queerer Geschichtsschreibung ist vom Forschungsinteresse abhängig. Beachtet werden muss, dass empirische „Methoden [...] im queeren Sinn [...] keine Mittel zur Verifizierung [sind], sondern Modi der Annäherung, die Überraschungen ermöglichen, unerwartete Perspektiven eröffnen, festgefügte Kategorien durchkreuzen und Dinge in Bewegung bringen“.25

Für viele queere Studien hat sich die Auseinandersetzung mit analytischen Kategorien als ergiebig erwiesen. Zumeist geschieht die Kategorienbildung in Anlehnung an Joan W. Scotts bahnbrechende Herangehensweise zu gender. Ein Anliegen bei Scotts Ansatz ist es, die Konzeption und Konstruktion von Machtverhältnissen aufzuzeigen.26

Bei der Benennung der Kategorien ist zu bedenken, dass nicht Begriffe im Vordergrund stehen. Kategorien liegen analytische Konzepte zugrunde, die definiert werden müssen.27

Eine historische Kontextualisierung der gewählten Benennung erscheint unerlässlich, um den Wandel von Begrifflichkeiten aufzuzeigen und sexuelle Identitätszuschreibungen aus einer gegenwärtigen Perspektive zu verhindern. Beispielsweise sagen historische Quellen selten aus, ob sich ein Mensch selbst als hetero- oder homosexuell identifiziert hat. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen führen nicht zwingend zur Identifikation mit einer homosexuellen Identität. Um der Problematik einer Identitätszuschreibung oder einer Verengung des Analysegegenstandes vorzubeugen, verwenden Historiker*innen oftmals analytische Kategorien, die möglichst inklusiv und ergebnisoffen gewählt werden. Queer steht dabei stellvertretend für die Benennung nicht heteronormativer Begehrensstrukturen und Sexualitäten, „without having to pinpoint categories of analysis in the past“, so der Historiker Sébastien Tremblay.28 Die Historikerin Elisa Heinrich hat dagegen anhand der Kategorie ‚Intimität‘ Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900 untersucht. Der Fokus auf Intimität vermeide eine Einschränkung der Untersuchung, so Heinrich. Dies sei die Gefahr, wenn in den Quellen stattdessen nur nach Homosexualität gesucht werde.29 Das Offenhalten von Identitätszuschreibungen ermöglicht es, Graubereiche sichtbar zu machen, die mit bipolaren Begriffspaaren wie hetero- und homosexuell oder auch Mann und Frau übersehen würden.30

Die Uneindeutigkeit vieler Kategorien trifft allerdings auch auf Kritik. Berechtigterweise betont beispielsweise die Historikerin Lauren Jae Gutterman, sich für den Begriff lesbisch und gegen queer in ihrer Untersuchung zu lesbischem Begehren in Ehen in den USA der Nachkriegszeit entschieden zu haben.31 Es liege ihr damit fern, Identitätszuschreibungen vorzunehmen. Sie schreibe von Frauen, die Frauen begehrten.32 Dadurch soll die Sichtbarkeit lesbischer Frauen gewährleistet werden. Viel zu oft würden sie nämlich zusammen mit schwulen Männern unter Begriffen wie queer oder Homosexuelle subsummiert werden und nur ein Beiwerk männlich-homosexueller Geschichte darstellen.33

Als gewinnbringend erscheinen außerdem intersektionale Zugänge, bei denen das Zusammenwirken verschiedener Differenzierungskategorien wie race, Klasse, Sexualität oder Befähigung untersucht wird, um Mehrfachdiskriminierungen aufzuzeigen.34 Solche sich überschneidenden Benachteiligungen waren auch im historischen Kontext keine Seltenheit im Militär. Religion, Nationalität, sexuelle Orientierung und weitere Kategorien führten oftmals zu systematischen Benachteiligungen.35

Queere Militärgeschichte schreiben

In meinem Forschungsprojekt Gleichgeschlechtliche Sexualität in den Streitkräften Österreich-Ungarns (1855–1918) untersuche ich Militärgerichtsverfahren gegen 406 Soldaten.36 Gerichtsakten zeigen keineswegs nur obrigkeitliche Perspektiven im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Sexualitäten, wie sie in jenem Teil der gerichtlichen Praxis zu Tage trat, der durch Gesetze, Verordnungen oder medizinische Gutachten bestimmt war. Durch die Zeugenvernehmungen eröffnen sich außerdem die Meinungen der Befragten bis auf die untersten gesellschaftlichen Ebenen hinunter. Dadurch offenbaren die Militärgerichtsakten, wie die Beschuldigten und ihre Kameraden über gleichgeschlechtliches Begehren und Identität dachten, was sie darüber wussten und wie sie ‚den Homosexuellen‘ definierten.37

Die Akteure der Militärgerichtsverfahren waren von zahlreichen Diskurssträngen und -positionen über gleichgeschlechtliche Sexualitäten beeinflusst. Diese Diskursstränge zeigen, wie sich Österreich-Ungarns Militärjustiz für die Urteilsfindung an wissenschaftlichen ‚Erkenntnissen‘ und gesellschaftlichen Meinungen orientierte.38 Innerhalb der Untersuchung wird eine Vielzahl an Kategorien herangezogen, anhand derer queere Handlungen und Identitäten untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf gleichgeschlechtlichem Begehren. Die Untersuchung wird von folgenden Fragen geleitet:

Wie ging das Militär mit gleichgeschlechtlicher Sexualität um? Wie wurde ‚der Homosexuelle‘ aus zeitgenössischer Perspektive konstruiert? Welche ‚Gefahren‘ gingen von ‚den Homosexuellen‘ aus Sicht des Militärs und der Kameraden mit Blick auf die Kampfkraft, Kameradschaft und militärische Männlichkeit aus? Welche Handlungsspielräume hatten beschuldigte Soldaten vor Gericht sowie im Militär und wie definierten sie ihre eigene Sexualität? Wie äußert sich der Umgang der Militärjustiz mit gleichgeschlechtlichem Begehren im Unterschied zum Militär im Allgemeinen?

Von zentraler Bedeutung ist die analytische Unterscheidung der einzelnen Dienstgrade – altösterreichisch Chargenränge genannt. Niedere Soldaten treten als Beschuldigte hauptsächlich in Erscheinung, wenn sie entweder mit gleichrangigen Soldaten in flagranti oder beim Anbieten sexueller Dienstleistungen im öffentlichen Raum von Wachorganen ertappt wurden. Dies stellt die Minderheit der Fälle dar. Dagegen hatten sich Unteroffiziere und Offiziere zumeist wegen nicht konsensualer sexueller Übergriffe vor Gericht zu verantworten.39 Besonders markant an diesen Fällen ist der Missbrauch militärischer Autorität mit dem Zweck, Untergebene zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Allerdings zeigt sich beim Thema sexueller Gewalt ebenso die Möglichkeit, dass Untergebene Anschuldigungen gegen unliebsame Vorgesetzte machten, um ihnen Probleme zu bereiten. Die Grenzziehung zwischen erzwungen und konsensual verschwimmt des Öfteren. Physische Gewalt kam nur äußerst selten vor und in einigen Fällen nutzten Untergebene die Missbrauchssituationen, um Geld von den Vorgesetzten zu erpressen. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen stellten einen Straftatbestand dar und hatten vor allem für Berufssoldaten weitreichende Konsequenzen, wenn sie ans Licht der Öffentlichkeit kamen. Militärische Macht und Autorität waren demnach entscheidende Faktoren, weil sie missbräuchlich eingesetzt werden konnten. Dies stellte sich als ein Problem im Militär heraus, das nicht nur bei sexueller Gewalt zum Tragen kam.

Die Gerichtsverfahren sind geprägt von Fremdzuschreibungen über spezifische Attribute homosexueller Männer. Nur selten gestanden Beschuldigte ein, sich von anderen Männern sexuell angezogen gefühlt zu haben. In diesen Fällen gaben sie zu Protokoll, unter diesem Begehren zu leiden. Mit einer Bestrafung vor Augen, müssen diese ‚Geständnisse‘ als Versuch einer Milderung der Strafe angesehen werden.

Dieser Gesichtspunkt, dass sich nur die allerwenigsten Männer innerhalb der Strafverfahren als homosexuell identifizierten, verdeutlicht, weshalb ein Operationalisieren lediglich mit der Kategorie Homosexualität nicht erfolgsversprechend ist. Die Bedeutung des Begriffs hat sich in den letzten 150 Jahren stark gewandelt, von einer zuerst neutralen Benennung zu einer pathologisierten Ächtung und anschließend hin zu einer positiv besetzten Selbstbezeichnung. Es würde bei einer pauschalen Verwendung eine indirekte Identitätszuschreibung vorgenommen werden, die aufgrund gegenwärtiger kulturell-sozialisierten Vorstellungen den Blick auf die historische Bedeutung verstellen. Außerdem können die Lebensumstände der untersuchten Menschen durch analytische Kategorien wie gleichgeschlechtliches Begehren oder queer näher und differenzierter wahrgenommen werden.

Abschließend ist festzuhalten, dass queere Geschichte keine Minderheitengeschichte ist. Queere Menschen sind auch keine gesellschaftliche Randerscheinung, werden jedoch als Minderheit in der Gesellschaft marginalisiert. Menschen, die von einer wie auch immer zu definierenden heterosexuellen Norm abwichen, waren und sind in allen gesellschaftlichen Schichten und Organisationen sowie staatlichen Institutionen vertreten, ob ersichtlich oder im Verborgenen. Nicht nur diese Feststellung zeigt die Notwendigkeit einer queeren Militärgeschichte. Besonders die methodisch-theoretisch sowie inhaltlich innovativen Forschungsansätze der queeren Geschichtsforschung stellen eine Bereicherung für die Militärgeschichte dar, von der die meisten Forschungsarbeiten im Allgemeinen profitieren können. So legt sie etwa prägnante Sichtweisen, Denkweisen oder Handlungsweisen der ‚Mehrheitsgesellschaften‘ offen. Das scheinbar ‚Normale‘ erhält dadurch Kontur, dessen vermeintlich klare Grenzen werden durch queere Kritik sogleich ins Wanken gebracht. Vor allem im Militär waren Egalisierung, Standardisierung oder Normalisierung von der höchsten bis zur untersten Ebene an der Tagesordnung, die realiter nur eine Minderheit der Betroffenen tatsächlich erfüllte.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Daniel R. Bonenkamp.

  • 1. Der Begriff queer stammt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie seltsam, falsch oder pervers. Ursprünglich als Schimpfwort verwendet, wurde der Begriff von Lesben, Schwulen und trans Personen umgedeutet und auf selbstbewusste Weise angeeignet. Vgl. Mike Laufenberg, Queere Theorien zur Einführung, Hamburg 2022, S. 9.
  • 2. Vgl. u.a. Randy Shilts, Conduct Unbecoming. Gays & Lesbians in the U.S. Military, New York 1993, S. 7–11; Mary Ann Humphrey, My Country, My Right to Serve. Experiences of Gay Men and Women in the Military, World War II to the Present, New York 1990, XXIII; Illustrierte Oesterreichische Kriminal-Zeitung, 16.09.1907, S. 10.
  • 3. Vgl. Jeffrey Weeks, What is Sexual History? Cambridge 2016, S. 38f.
  • 4. Zur Geschichte der Gay and Lesbian Studies und queer Theory siehe: Laufenberg, Theorien; Weeks, History?, S. 38–56.
  • 5. Vgl. Volker Woltersdorff, Homosexualitätsforschung und Queerstudien. In: Florian Mildenberger/Jennifer Evans/Rüdiger Lautmann/Jakob Pastötter, Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven, Hamburg 2014, S. 205–253, hier S. 207.
  • 6. Beate Binder/Benno Gammerl, Methoden queeren Forschens, in: Zeitgeschichte-online, Juni 2023, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/methoden-queeren-forschens.
  • 7. Vergleiche dazu für die USA den Ausschluss homosexueller Menschen aus der Armee und ab den frühen 1990er Jahren die don’t ask don’t tell Gesetzgebung unter der Präsidentschaft von Bill Clinton: Vgl. Agnes Gereben Schaefer, A Comparative Analysis of the Military Bans on Openly Serving Gays, Lesbians, and Transgender Personnel. In: Beth Bailey/Alesha E. Doan/Shannon Portillo/Kara Dixon Vuic (Hrsg), Managing Sex in the U.S. Military. Gender, Identity, and Behavior, Lincoln 2022, S. 143–169.
  • 8. Für Deutschland wäre die Interessensvertretung queerer Bundeswehrangehöriger QueerBw in diesem Zusammenhang zu nennen, die für die Sichtbarkeit und Gleichberechtigung ihrer Mitglieder eintritt.
  • 9. Vgl. Jacqueline E. Whitt, Queering American Military History. In: International Journal of Military History and Historiography 42 (2022) S. 106–134, hier S. 108f.
  • 10. Teilweise sind dies eigene Erfahrungen, werden allerdings auch von anderen in ähnlicher Weise so formuliert. Vgl. Emma Vickers, Queen and Country. Same-Sex Desire in the British Armed Forces 1939–45, Manchester 2013, S. 6–12.
  • 11. Anna Hájková, Den Holocaust Queer erzählen. In: Janin Afken/Jan Feddersen/Benno Gammerl/Rainer Nicolaysen/Benedikt Wolf (Hrsg), Jahrbuch Sexualitäten 2018, Göttingen 2018, S. 86–110, hier S. 107f.
  • 12. Frauen, so die Kritik, würden nur als eine Art Ergänzungsgeschichte vorkommen, damit diese neben den Männern wenigstens erwähnt werden. Vgl. Karen Hagemann, Introduction: Gender and the History of War. In: Dies./Stefan Dudink/Sonya O. Rose (Hrsg.) The Oxford Handbook of Gender, War and the Western World since 1600, Oxford 2020, S. 1–34, hier S. 4.
  • 13. Vgl. Christa Hämmerle, Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte. In: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann, Was ist Militärgeschichte? Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, S. 229–262. Dies zeigt sich auch daran, dass vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr erst 2022 eine Tagung zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des Militärs organisiert wurde. Vgl. Folke Wulf, Der Krieg hat kein Geschlecht, das Militär schon? Militär. Geschichte. Geschlecht. (Potsdam, 16.–18.11.2022), in: Portal Militärgeschichte, 19. Dezember 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/wulf_krieg (05.06.2023).
  • 14. Für Deutschland und Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg siehe: Jeffrey Schneider, Soliciting Fantasies. Knowing and Not Knowing about Male Prostitution by Soldiers in Imperial Germany. In: Scott Spector/Helmut Puff/Dagmar Herzog (Hrsg.) After The History of Sexuality. German Genealogies with and beyond Foucault, New York/Oxford 2012, S. 124–138; Anita Kurimay, Queer Budapest. 1873–1961, Chicago/London 2020, S. 78–81.
  • 15. Vgl. Matt Cook, London and the Culture of Homosexuality, 1855–1914, Cambridge 2002, u.a. S. 13; 25; 39.
  • 16. Vgl. Matt Houlbrook, Soldier Heroes and Rent Boys: Homosex, Masculinities, and Britishness in the Brigade of Guards, circa 1900–1960. In: Journal of British Studies 42/3 (2003) S. 351–388.
  • 17. Mit Cross-Dressing wird das Tragen von geschlechterspezifischer Kleidung bezeichnet, die nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Vgl. Jason Crouthamel, Cross-Dressing for the Fatherland: Sexual Humour, Masculinity and German Soldiers in the First World War. In: First World War Studies 2/2 (2011) S. 195–215. Zu diesem Themenfeld ist außerdem zu verweisen auf: Julia B. Köhne/Britta Lange/Anke Vetter (Hrsg.) Mein Kamerad – Die Diva. Theater an der Front und in Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs, München 2014.
  • 18. Vgl. Jason Crouthamel, ‚Comradeship‘ and ‚Friendship‘: Masculinity and Militarization in Germany’s Homosexual Emancipation Movement after the First World War. In: Gender & History 23/1 (2011) S. 111–129.
  • 19. Vgl. u. a. Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt a.M. 2010; Verena Moritz/Hannes Leidinger, Oberst Redl. Der Spionagefall. Der Skandal. Die Fakten, St. Pölten/Salzburg/Wien 2012; Heiner Möllers, Die Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr, Berlin 2019; Michael Schwartz, Homosexuelle, Seilschaften, Verrat, Berlin/Boston 2019.
  • 20. Hekma klärt in seiner ersten Fußnote, dass er mit homosexual behaviour keine Identität beschreibt, sondern gleichgeschlechtliche Handlungen. Vgl. Gert Hekma, Homosexual Behavior in the Nineteenth-Century Dutch Army. In: Journal of the History of Sexuality, 2/2 (1991) S. 266–288, Fußnote 1.
  • 21. Vgl. Hekma, Homosexual, S. 287f.
  • 22. Vgl. Gary L. Lehring, Officially Gay. The Political Construction of Sexuality by the U.S. Military, Philadelphia 2003; Noah Riseman/Shirleene Robinson, Pride in Defence. The Australian Military & LGBTI Service since 1945, Victoria 2020; Paul Jackson, One of the Boys. Homosexuality in the Military during World War II, Montreal 2010; Vickers, Queen; Für einen Forschungsüberblick zur queeren Geschichte der US Army siehe: Whitt, Queering.
  • 23. Vgl. Klaus Storkmann, Tabu und Toleranz. Der Umgang mit Homosexualität in der Bundeswehr 1955 bis 2000, Oldenburg 2021.
  • 24. Whitt, Queering, S. 113, 125.
  • 25. Binder/Gammerl, Methoden.
  • 26. Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: The American Historical Review 91/5 (1986) S. 1053–1075; hier S. 1069.
  • 27. Vgl. Benedikt Wolf, Queer. And Now? Für eine kritische Geschichtsschreibung der Queer Theory, in: Janin Afken/Jan Feddersen/Benno Gammerl/ Rainer Nicolaysen/Benedikt Wolf (Hrsg.), Jahrbuch Sexualitäten 2019, Göttingen 2019, S. 153–178, hier S. 161f.
  • 28. Sébastien Tremblay, A Badge of Injury: The Pink Triangle as Global Symbol of Memory, Berlin 2023, S. 18.
  • 29. Vgl. Elisa Heinrich, Intim und respektabel: Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900, Göttingen 2022, S. 27–30.
  • 30. Benno Gammerl argumentiert in eine ähnliche Richtung. Es müsse auf die Wortwahl der handelnden Akteur*innen geachtet werden um zwischen Fremd- und Selbstbezeichnungen zu unterscheiden und nicht Gefahr zu laufen, wertende Formulierungen anzuwenden. Vgl. Benno Gammerl, Anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021, S. 9.
  • 31. Vgl. Lauren Jae Gutterman, Her Neighbor’s Wife. A History of Lesbian Desire within Marriage, Philadelphia 2020, S. 10f.
  • 32. Vlg. Gutterman, Wife, S. 15f.
  • 33. Vgl. Gutterman, Wife, S. 10f.
  • 34. Vgl. Katrin Meyer, Theorien der Intersektionalität zur Einführung, Hamburg 2017, S. 98.
  • 35. Vgl. Erwin A. Schmidl, Habsburgs jüdische Soldaten: 1788–1918, Köln/Wien 2014, S. 80–84, 95–100.
  • 36. Der folgende Abschnitt bezieht sich auf 290 Militärgerichtsverfahren, die im Österreichischen Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Militärgerichtsarchiv und im Kroatischen Staatsarchiv bewahrt werden. Die vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf die abgeschlossene Auswertung des Archivmaterials. Vgl. Daniel Gunz, Von Lust und Leid. Homosexualität und sexuelle Gewalt in den Armeen Österreich-Ungarns 1900–1918, in: Portal Militärgeschichte, 28. März 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/gunz_lust (02.10.2023).
  • 37. Allerdings gehe ich nicht so weit anzunehmen, dass Gerichtsakten Ego-Dokumente sein können, wie häufig in der Forschung argumentiert wird. Natürlich finden sich oftmals Tagebücher oder Korrespondenzen innerhalb der Akten, die eine Perspektive auf das Fühlen und Denken der Beschuldigten eröffnen. Die Verhörsituationen bei den Vernehmungen lassen sich jedoch nicht über die Protokolle nachvollziehen. Es ist unklar, wieviel Druck behördlicherseits ausgeübt wurde und wer wann aus welchem Grund log oder die Wahrheit sprach. Viel mehr bin ich der Meinung, dass Gerichtsakten strategische Dokumente darstellen, da sowohl Behörden als auch Aussagende unterschiedliche Ziele im Verfahren verfolgten. Zur Debatte um Gerichtsakten als Ego-Dokumente siehe: Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Stefan Micheler, Selbstbilder und Fremdbilder der „Anderen“. Eine Geschichte Männer begehrender Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit, Konstanz 2005, S. 78–81; Andreas Brunner/Sophie Wagner, Strafakten als Ego-Dokumente. Selbstzeugnisse in Strafverfahren wegen § 129 Ib zwischen 1938 bis 1945. In: Andreas Brunner/Hannes Sulzenbacher (Hrsg.), Homosexualität und Nationalsozialismus in Wien, Wien/Berlin 2023, S. 229–249.
  • 38. Diskursgeschichte, so die Historikerin Laura Doan, sei besonders gewinnbringend, um taxonomische Systeme über Geschlecht und Sexualität hervorzubringen und dadurch eine epistemologische Einordnung vornehmen zu können. Vgl. Laura Doan, Disturbing Practices. History, Sexuality, and Women’s Experience of Modern War, Chicago 2013, S. 101.
  • 39. Insgesamt behandeln 60 Prozent der untersuchten Fälle Formen nicht konsensualer Übergriffe und sexueller Gewalt, wovon wiederum die überwiegende Mehrheit in hierarchischen Dienstverhältnissen erfolgte. 26 Prozent können als konsensual bezeichnet werden und die restlichen 14 Prozent lassen sich nicht zuordnen.
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