Eine geschichtswissenschaftliche Rezension zum Film „Mein Sohn, der Soldat“
Leonard Kleiber
Miszelle
Veröffentlicht am: 
10. November 2023
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.10.11.2023

In den letzten Jahren erfreuen sich Kinofilme über den Ersten Weltkrieg wieder wachsender Beliebtheit: Nach „1917“ und der dritten Auflage von „Im Westen nichts Neues“ erschien 2023 mit „Mein Sohn, der Soldat“ (franz. Originaltitel Tirailleurs) ein dritter Kinofilm zum Thema. Im Unterschied zu den vorgenannten Filmen, die ebenfalls die Westfront1 zum Schauplatz haben, entschied sich Regisseur Mathieu Vadepied für eine sowohl auf der Kinoleinwand als auch generell in der Geschichtswissenschaft vernachlässigte Perspektive.2 Der hier besprochene Film fokussiert auf nordafrikanische Kolonialtruppen im Ersten Weltkrieg. Durch die prominente Besetzung mit Omar Sy in der Hauptrolle des Bakar Diallo zielt der Film darauf ab, die weitestgehend vernachlässigte Geschichte afrikanischer Soldaten im Ersten Weltkrieg einem breiten Publikum zu vermitteln und so die traditionell eurozentrische Darstellung des Kriegsgeschehens an der Westfront zu erweitern.

Während des Ersten Weltkriegs setzte die französische Armee rund 800.000 Menschen aus Afrika ein, größtenteils im Arbeitsdienst. Davon dienten circa 135.000 Mann als Kombattanten an der West- sowie an der Balkanfront.3 Der Originaltitel „Tirailleurs“ (deutsch: Schützen) korrigiert indes ein wichtiges Narrativ: Die landläufige Bezeichnung französischer Kolonialtruppen als „Tirailleurs Sénégalais“ wird als Sammelbegriff für alle aus Afrika – vor allem aus dem Maghreb – stammenden und im Krieg für Frankreich kämpfenden Einheiten verwendet.4 Es ist bedauerlich, dass die deutsche Titulierung des Films mehr die Handlung als den historischen Kontext repräsentiert. Die wichtige und unkonventionelle Perspektive des Kinofilms auch im Deutschen durch einen entsprechenden Filmtitel hervorzuheben, wird somit versäumt. Gleichwohl lassen sich hieraus auch Schlüsse über die unterschiedlichen Adressierungen des Films in Frankreich und Deutschland ziehen, schließlich bildet der Film einen sensiblen Teil der französischen Geschichte ab.5

Nach einer kurzen, im Senegal spielenden Einführungsszene, in der sich Bakar Diallo dazu entschließt, seinen mobilisierten Sohn Thierno an die Front zu begleiten, überspringt der Film wichtige Aspekte der Geschichte der senegalesischen Kolonialtruppen. Beispielsweise werden die militärische Ausbildung der Soldaten und die lange, mit Strapazen verbundene Überfahrt nach Europa ignoriert. Auch wenn dies dramaturgischen Gründen geschuldet ist, wäre es wünschenswert gewesen, bereits hier die kulturelle, gesellschaftliche wie geografische Distanz deutlich zu machen, die afrikanische Soldaten zu einem tausende Kilometer entfernt ausgefochtenen Krieg haben mussten. In Frankreich angekommen befinden sich die beiden Protagonisten im Bereitstellungsraum eines unbekannten Bataillons bei Verdun. Bakar Diallo setzt umgehend alles daran, seinem Sohn den Einsatz an der Front zu ersparen, indem er durch Bestechung versucht, ihm einen Platz in der Kantine zu organisieren. Hier schafft es der Film, die militärische Kultur einer Kampfeinheit darzustellen. Das Gefälle zwischen „alten Hasen“ und Neulingen, das Ausnutzen von Machthierarchien und – speziell im Falle der Kolonialtruppen – die ethnischen Unterschiede und sprachlichen Barrieren unter den Mannschaften und gegenüber französischen Offizieren werden gut vermittelt.

Den größten Schwachpunkt des Films stellt die weitestgehende Aussparung des Themas Rassismus dar. Die rassistischen Vorurteile6 sowohl der französischen Bevölkerung – lediglich symbolisiert durch ein erstauntes Mädchen, an dem Diallos Einheit vorbeimarschiert – als auch der französischen Vorgesetzten werden kaschiert durch den progressiven und toleranten Zugführer. Im gesamten Film finden sich keine rassistischen Äußerungen, lediglich einmal sprechen die Kolonialsoldaten über rassistische Behandlung durch ihre Vorgesetzten, der sie ausgeliefert sind. Der Film macht es sich hier einfach und versucht unbequeme historische Tatsachen auf ein Minimum zu reduzieren, womit unbeabsichtigt die Mär des „guten Kolonialherren“ reproduziert wird.

Im Gegensatz dazu beleuchtet der Film einen wesentlichen Aspekt der afrikanischen beziehungsweise kolonialen Militärgeschichte: die Frage nach Bürgerrechten und Partizipation im Austausch für den Militärdienst.7 Die Soldaten unterhalten sich während einer Kampfpause darüber, dass nach dem Krieg „alles anders werde“ und setzen große Hoffnungen darin, endlich Bürger Frankreichs zu werden. Für einige ist die Erlangung der Bürgerrechte oder ein „neues Leben“ gar die Motivation, den Krieg durchzustehen. Ferner wird das panafrikanische Denken, das trotz aller Heterogenität in den Reihen afrikanischer Truppen existierte, präsentiert, indem sich die Kolonialsoldaten als Gemeinschaft gegenüber den Kolonialherren abgrenzen.

Bakar Diallos Plan, seinen Sohn mit erkauftem Kantinendienst die Front zu ersparen, scheitert und so müssen beide ins Gefecht. Die dargestellten Kampfhandlungen, die sich auf das Erstürmen von Bunkern und Gräben beschränken und damit dem klassischen Westfront-Paradigma entsprechen, fallen durch ihre absolut untertriebene Darstellung von Gewalt ins Auge. Verwundung und Tod werden in Häppchen serviert und sind filmisch nur in Ansätzen umgesetzt, um das Publikum nicht mit den unangenehmen, abstoßenden Realitäten des Krieges zu überfordern. Dennoch vermag der Film durch die Vater-Sohn-Beziehung einen Aspekt von Krieg eindrücklich zu vermitteln: Während Bakar Diallo verzweifelt nach einem Ausweg für sich und seinen Sohn sucht, passt sich Thierno mit der Zeit der militärischen Kultur an und wird sogar zum Korporal befördert. Damit steht er aufgrund seines Rangs in der Armeehierarchie über seinem Vater, was Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn zur Folge hat. Eine vom Vater organsierte Flucht bricht Thierno ab, um stattdessen mit seiner Einheit einen Angriff auf eine deutsche MG-Stellung auszuführen. Vadepied zeigt durch den Handlungsstrang, wie sich die Logik des Krieges über die Logik der Familie und die Vater-Sohn-Beziehung stülpt. Einerseits findet Thierno Gefallen an seiner neuen Autorität. Andererseits ist es die Kameradschaft, die sich aus dem gemeinsamen Erleben von Schmerz und Leid bildet und die einzige Form des Halts darstellt. Sie überwiegt gegenüber Thiernos Bindung zum Vater sowie dem Willen zur Flucht und äußert sich im scheinbar irrationalen Willen, Seite an Seite mit den Kameraden im Gefecht zu stehen.

Der Film „Mein Sohn, der Soldat“ punktet mit einem unkonventionellen Ansatz sowie einem in der öffentlichen Wahrnehmung nur peripher berührten Thema. Er besitzt das Potential, das Thema Kolonialtruppen und deren Kriegsbemühungen populärer zu machen. In der Umsetzung jedoch schöpft der Film das geschichtliche Büffet nicht aus, die von den Soldaten tatsächlich erlebte Gewalt und das Leid des Krieges werden verwässert und der historischen Tiefe der Materie nur bedingt Rechnung getragen. Es darf hinterfragt werden, ob der Film tatsächlich ein Bewusstsein für die Kolonialtruppen schaffen möchte oder lediglich auf den cineastischen Weltkriegshype aufspringen und sich mit einer exotischen Perspektive abheben will.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Takuma Melber.


Zitierempfehlung: Leonard Kleiber, Töten für Frankreich, sterben für den Senegal? Eine geschichtswissenschaftliche Rezension zum Film „Mein Sohn, der Soldat“, in: Portal Militärgeschichte, 10. November 2023, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.10.11.2023.

  • 1. Der Begriff „Westfront” wird hier aus deutscher Perspektive genutzt.
  • 2. Nancy Ellen Lawler, A Brief Account of Ivoirien Tirailleurs Sénégalais in the Second World War, Mostly in Their Own Words, in: Eric Storm/Ali Al Tuma (Hrsg.), Colonial Soldiers in Europe, 1914–1945. „Aliens in Uniform” in Wartime Societies, New York 2016, S. 58–76, hier S. 61.
  • 3. Hakim Adi, Pan-Africanism. A History, London 2018, S. 90.
  • 4. Éric Deroo/Antoine Champeaux, Panorama des troupes coloniales francaises dans les deux guerres mondiales, in: Revue Historique des Armées 271 (2013), S. 72–88, hier S. 74.
  • 5. Vgl. Martin Thomas, The French Colonial Mind, Bd. 1: Mental Maps of Empire and Colonial Encounters, Lincoln 2012, S. XI–XIII.
  • 6. Joe H. Lunn, „Bons soldats“ and „sales nègres”. Changing French Perceptions of West African Soldiers during the First World War, in: French Colonial History 1 (2002), S. 1–16, hier 2, 12.
  • 7. Zum Aspekt von Krieg und Bürger- und Menschenrechten siehe auch: David L. Rousseau (Hrsg.), War and Rights. The Impact of War on Political and Civil Rights, Ann Arbor 2021.
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