Michael Fröhlich
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
13. August 2014

Das Jubiläum 2013 bietet Beispiele für solche Darstellungsweisen der Konvention von Tauroggen.1 Worauf beziehen sie sich historisch? General Hans David Ludwig Yorck von Wartenburg zeichnete verantwortlich für die Konvention von Tauroggen, die die Trennung der preußischen Truppen von der französischen Armee während des Russlandfeldzugs Napoleons 1812 bewirkte. Er war Befehlshaber des preußischen Hilfskontingents innerhalb des X. Armeekorps unter Marschall MacDonald. Die Aufgabe der Preußen war es, Riga zu belagern. Dabei handelte es sich von Beginn an um einen Nebenkriegsschauplatz, und Riga konnte während des Russlandfeldzugs nicht eingenommen werden. Vielmehr stand Yorck von Anfang an mit dem russischen Militärgouverneur Rigas, dem Marquis Philippo Paulucci, einem Italiener in russischen Diensten, in Kontakt. Die Preußen hatten sich bereits im Sommer, zu Beginn des Feldzuges, mit dem Militärgouverneur verständigt, kein unnötiges Blut in diesem Krieg zu vergießen, sodass sie weniger unter dem Elend des Russlandfeldzugs zu leiden hatten als andere deutsche Kontingente. Ein erstes Anzeichen für einen Frontwechsel war dies jedoch nicht, denn die Demarkationslinie wurde mit Wissen und Einverständnis der Franzosen vereinbart.

Worüber die Franzosen allerdings nicht Bescheid wussten, war der andauernde Briefverkehr zwischen Yorck und Paulucci, der Yorcks gedankliche Entwicklung während des Feldzugs zeigt. Paulucci versuchte Yorck von einem Frontwechsel oder zumindest von einem Abfall von den Franzosen und einer neutralen Haltung zu überzeugen. Je länger der Feldzug andauerte, desto mehr nahm diese Idee in Yorck Gestalt an. Dennoch wollte er ohne Einverständnis des Königs nicht handeln, aber der preußische König Friedrich Wilhelm III. konnte sich nicht zu einem eindeutigen Befehl durchringen und befahl weder das Verbleiben bei den Franzosen, noch den Übergang zu den Russen. Friedrich Wilhelm III. wollte auf Zeit spielen und den geeigneten Zeitpunkt abwarten – nicht um sich den Russen anzuschließen, sondern um sich in die Neutralität zu flüchten. Yorck wiederum war Mitte Dezember zu einem Abfall von den Franzosen bereit, aber er wollte die Befehle seines Königs abwarten, die allerdings ausblieben.

Am 20. Dezember erfolgte auf Befehl der Franzosen der Rückzug der Truppen Yorcks. Während des Rückzugs schoben sich russische Truppen unter dem Kommando von General von Diebitsch zwischen Yorck und MacDonald. Bedrohlich war diese Lage nicht, da es sich nur um eine russische Vorhut handelte. Allerdings brach dadurch die Kommunikation zwischen Preußen und Franzosen ab. Am 26. Dezember erreichte Yorck ein Brief Pauluccis, der ein Schreiben des russischen Kaisers Alexander I. enthielt. Darin erklärte sich Alexander bereit, den Krieg gegen Frankreich auch jenseits der russischen Grenzen fortzuführen. Diese Zusicherung war sowohl für Yorck – würde er im französisch besetzten Preußen doch um seine persönliche Sicherheit fürchten müssen, falls er sich zum Abfall von den Franzosen entschließen würde – als auch für den preußischen Staat wichtig, da an eine Befreiung von der französischen Besatzung aus eigener Kraft zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken war.

Darüber hinaus wurde Yorck die Errichtung einer neutralen Zone für seine Truppen angeboten, um in sicherer Stellung die weiteren Befehle Friedrich Wilhelms III. abzuwarten. Am 28. Dezember stieß Carl von Clausewitz, der zu dieser Zeit in russischen Diensten stand, als Unterhändler zu Yorck und überzeugte ihn, dass die Neutralisierung der preußischen Truppen militärisch gerechtfertigt sei. Somit lieferte er Yorck eine Begründung für die Neutralisierung, die ihn nicht als Verräter gegenüber den Franzosen kompromittierte. Die Konvention, die daraufhin von Yorck und Diebitsch am 30. Dezember 1812 bei Tauroggen abgeschlossen wurde, bedeutete zunächst die Neutralisierung der preußischen Truppen, bald darauf wurde sie aber zum Anlass für die Erhebung Preußens gegen Frankreich.2

Durch die verkürzte Darstellung in den meisten Monographien erscheint die Tat Yorcks beinahe als eine patriotische Affekthandlung. Johann Gustav Droysen zitierte Yorck mit den Worten:

„Meine Herren, das französische Heer ist durch Gottes strafende Hand vernichtet; es ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir unsere Selbständigkeit wieder gewinnen können, wenn wir uns jetzt mit dem russischen Heere vereinigen. Wer so denkt wie ich, sein Leben für das Vaterland und die Freiheit hinzugeben, der schließe sich mir an; wer dies nicht will, der bleibe zurück. Der Ausgang unserer heiligen Sache mag sein, wie er will, ich werde auch den stets achten und ehren, der nicht meine Meinung teilt und zurückbleibt. Geht unser Vorhaben gut, so wird der König mir meinen Schritt vielleicht vergeben; geht es mißlich, so ist mein Kopf verloren.“3

Der wochenlange Briefverkehr zwischen Yorck und dem Militärgouverneur von Riga wird in der Regel unterschlagen, obwohl diese Korrespondenz dokumentiert, wie im Laufe der Zeit in Yorck der Entschluss zum eigenmächtigen Handeln heranreifte.4 Die verkürzte Darstellung der Ereignisse machte es Historikern und Zeitgenossen einfach, die Yorksche Tat für politische Deutungen zu vereinnahmen und Yorck ausschließlich als ein ausführendes Organ darzustellen, das nur gehorchte. Die Konvention von Tauroggen ist ein hervorstechendes Beispiel dafür, wie die Tat eines Militärs in verschiedenen Situationen in der Geschichte instrumentalisiert wurde und als Vorbild für äußerst fragwürdige historische Parallelen herhalten musste, wie zu zeigen sein wird.

In Preußen war man sich zunächst nicht sicher, wie die Tat Yorcks zu bewerten sei: Staatskanzler Karl August Freiherr von Hardenberg und König Friedrich Wilhelm III. gingen erst einmal von einer Kapitulation aus, die nicht als Verrat gegenüber Frankreich ausgelegt werden konnte. So ist die positive Reaktion Friedrich Wilhelms III. zu erklären, als er erfuhr, dass die preußischen Truppen unter Yorck von den Kampfhandlungen ausgeschieden waren.5 Denn eine militärisch begründbare Kapitulation bedeutete die Herausziehung seiner Truppen aus dem bewaffneten Konflikt, ohne dass dadurch Napoleon vor den Kopf gestoßen würde. Im Hintergrund gab es bereits Gedankenspiele, die aufgrund des verlorenen Russlandfeldzugs momentane Schwäche Frankreichs auszunutzen, das Bündnis mit Frankreich aufzukündigen und sich in die Neutralität zu flüchten. Dies hätte eine Fortsetzung absolutistischer Kabinettspolitik unter Verkennung der Stimmung in der Bevölkerung bedeutet, die – anders als 1806, als im friderizianischen Sinne Ruhe erste Bürgerpflicht war – nun nicht nur antifranzösisch, sondern durchaus auch revolutionär gestimmt war.6

Als klar wurde, dass Yorck nicht kapituliert hatte, sondern ganz bewusst seine Truppen aus dem Krieg Napoleons gegen Russland herausgezogen hatte, war der Grundstein für einen Mythos bereits gelegt. Es erschien unfassbar, dass ein preußischer General eigenmächtig derartige politisch tiefgreifende Entscheidungen traf. Denn dies tat Yorck. Ein Blick auf den Wortlaut der Konvention zeigt, dass Yorck sich in Artikel 2 verpflichtet hatte, unabhängig von der Entscheidung Friedrich Wilhelms III. zwei Monate die Waffen gegen die Russen ruhen zu lassen. Dies galt nicht für einen möglichen Waffengang gegen Frankreich. In Artikel 3 geht es um den freien Abzug der preußischen Truppen, sofern der preußische König sich der „allerhöchste[n] Bestimmung“ versage.7 Die „allerhöchste Bestimmung“ war für Yorck das Bündnis mit Russland gegen Frankreich. Yorck hatte sich hier das Recht des Souveräns angemaßt: zu entscheiden, wer Freund und wer Feind war. Konkret wurde Yorck nach Unterzeichnung der Konvention in einem Brief vom 3. Januar 1813 an Friedrich Wilhelm III., in dem er den König beschwor, gegen den „wirklichen Feind“ vorzugehen, womit er Frankreich meinte.

Der preußische König konnte Yorcks Tat aus Gründen der Staatsräson nicht gutheißen. Letztendlich war es jene Konvention, die Friedrich Wilhelm III. dazu nötigte, Farbe zu bekennen und eben keine neutrale Position zwischen Frankreich und Russland einnehmen zu können. Es war vor allem den Umständen geschuldet, dass Yorck nicht von einem Kriegsgericht verurteilt wurde, sondern in den folgenden Befreiungskriegen weiterhin ein Kommando bekleidete. Eine Verurteilung Yorcks wäre ein fatales Signal für die preußische Bevölkerung und den russischen Verbündeten gewesen, denn für sie war Yorck der Initiator des preußisch-russischen Bündnisses, auch wenn das Bündnis beim Abschluss der Konvention noch keineswegs sicher gewesen war und es mehrere Monate dauerte, bis es besiegelt war. Friedrich Wilhelm III. setzte lediglich eine Untersuchungskommission ein, die Yorck im März 1813 freisprach.8

Bei der politischen Instrumentalisierung der Konvention von Tauroggen steht überraschenderweise an erster Stelle der französische Kaiser Napoleon I. Im französischen Senat bauschte er die Tat Yorcks auf, um so weitere Truppenaushebungen zu begründen. Der Abfall von 12.000 Preußen (dies war die verbliebene Stärke des preußischen Kontingents in der Grande Armée nach dem Russlandfeldzug) sollte die Aushebung von 350.000 Mann rechtfertigen. Die Konvention sei das Ergebnis einer subversiven Stimmung in Deutschland, welche auf englischen Einfluss zurückzuführen sei.9 So ist auch Napoleons Ausspruch zu verstehen, wenn er der Konvention nur eine geringe militärische Bedeutung, aber eine große politische beimaß10: Er malte vor dem französischen Senat das Schreckgespenst eines sich erhebenden Deutschland aus. Dies geschah alles bereits unmittelbar nach der Konvention im Januar 1813, also zu einem Zeitpunkt, als Preußen und die Rheinbundstaaten offiziell noch Frankreichs Verbündete waren.

Für Friedrich Wilhelm III. bedeuteten die folgenden Befreiungskriege zwar eine außenpolitische Befreiung, aber, wie Rudolf Ibbeken schreibt, auch den „Anfang vom Ende des preußischen Absolutismus“,11 denn Ausgangspunkt war die eigenmächtige Handlung eines Offiziers und nicht die bewusste Entscheidung des Monarchen. So verwundert es nicht, dass Friedrich Wilhelm III. die Konvention von Tauroggen totschweigen ließ, als Napoleon 1815 endgültig geschlagen war.12 Sie wurde nicht als offizielles Staatspapier anerkannt und blieb in Yorcks privatem Besitz.13 Der preußische Hof verband die Konvention von Tauroggen mit der allgemeinen Volkserhebung von 1813, der man nur Herr hatte werden können, indem sich Friedrich Wilhelm III., gedrängt von seinen Beratern, an die Spitze dieser Erhebung setzte. Yorcks Tat galt nun als militärische Disziplinlosigkeit oder sogar als Verrat.14 Auch Historiker stimmten noch Mitte des 19. Jahrhunderts in dieses Urteil mit ein. So positiv die Folgen der Konvention waren, so war sie doch ein „militairisch nie zu billigende[s] Verfahren“.15

1851/52 bedeutet in der Historiographie zur Konvention von Tauroggen eine Zäsur. Zu diesem Zeitpunkt erschien die von Johann Gustav Droysen verfasste Biographie über Yorck. Droysens Werk setzte sich von den bisherigen Darstellungen der Konvention ab, indem er nicht nur die Folgen guthieß, sondern die Konvention an sich positiv deutete. Es gilt bis heute als Standardwerk für die Beschäftigung mit Yorck und auch der Konvention von Tauroggen und beeinflusste Generationen von Historikern. Droysen versichert dem Leser, „den Abschluß der Konvention nach der ganzen Härte des sittlichen Konfliktes, auf dem derselbe ruht, darzustellen […]“,16 aber er ist auch der Überzeugung, „daß es einen Punkt gebe, wo die Armee aufhöre, nur zu gehorchen“.17 Droysen geht so weit, Yorcks Tat als glorreich zu bezeichnen, gerade weil sie nicht militärisch zu rechtfertigen gewesen sei. Eine nachträgliche Verurteilung träfe den „Soldaten“, aber nicht den „Patrioten“.18 In Droysens Deutung hat Yorck also letztendlich einem Patriotismus Gestalt verliehen, der zwar nicht völlig losgelöst von der Monarchie war, aber Königstreue und Patriotismus erschienen nicht mehr unbedingt deckungsgleich zu sein. Droysens Intention wird anhand dieser Aussagen ersichtlich: Er plädiert für ein Soldatentum, das keinem Kadavergehorsam verpflichtet ist, sondern über ein eigenes Bewusstsein mit einem Wertesystem verfügt, „um das durchzufechten, wofür man einsteht“.19

Führt man sich die Entstehungszeit von Droysens Werk vor Augen, wird ersichtlich, dass dies nicht nur eine abstrakte Intention war, sondern eine ganz konkrete. Droysens Yorck-Biographie entstand zur Zeit der gescheiterten Revolution von 1848/49. Droysen befürchtete, dass Friedrich Wilhelm IV. vorhabe, die Armee in ein geistloses Instrument des Königtums umzuwandeln. Seine Biographie über Yorck sollte diesem Vorhaben entgegenstehen. Er gibt dies in einem Brief vom 16. Juli 1878 auch unumwunden zu: „Ich hatte im Verkehr mit militärischen Freunden in Berlin 1845/6 oft Gelegenheit, von den bedenklichen Symptomen in der Armee unter den geistreichen Einflüssen vom Thron her zu hören; ich faßte den Plan, in der typischen Gestalt Yorks das, was die preußische Armee Wesentliches habe und nicht verlieren dürfe, darzustellen […].“20 Es scheint also durchaus angebracht, Droysen eine politische Instrumentalisierung zu unterstellen, mit der er beabsichtigte, den Zeitgenossen Ideale des preußischen Militärs aufzuzeigen, die es zu bewahren gelte. Direkt oder indirekt stehen sämtliche nachfolgend erschienene Darstellungen in dieser Deutungstradition, denn seit seinem Werk wird Yorcks Tat ausschließlich positiv bewertet. Die Konvention wurde im Folgenden auch von den Militärs nicht mehr als schändliche Tat verstanden, sondern als Ausdruck eines geistig unabhängigen Soldatentums.

Das Selbstbewusstsein des preußischen Militärs wuchs, es war sich seiner Macht bewusst, hatte die Armee 1813 doch die preußische Krone vor ihrem Untergang gerettet. So schreibt Prinz Friedrich Karl von Preußen 1860:

„Die Konvention von Tauroggen. Sie ist nicht Yorks Werk allein, sondern er wurde moralisch zu diesem gefährlichen Schritte durch den Geist der preußischen Offiziere, ebensowohl durch die seines Korps, als durch die im russischen Dienst befindlichen gezwungen und durch ihn getragen. Gleichgültig übersahen die Geister dabei, welcher Gefahr sie zur Zeit den König aussetzten, aber ihre Ehre gebot den Schritt. Sie setzten sie über die Pflicht des Gehorsams. Eine ähnliche Konvention kann sich wiederholen. Die Offiziere sind ihrer noch fähig, oder durch das Beispiel fähiger, aber sie ist nur einzig und allein bei preußischen Offizieren denkbar.“21

Ehre wurde nun ganz bewusst über Gehorsam gesetzt und die Konvention von Tauroggen als Beispiel angeführt. Im Kaiserreich machten einige Offiziere keinen Hehl aus ihrer Meinung, dass das Militär eine überragende Bedeutung für Staat, Gesellschaft und Monarchie besäße. Der Historiker Friedrich Thimme, der das hundertjährige Jubiläum der Befreiungskriege 1913 in Berlin erlebte, schilderte die Stimmung folgendermaßen:

„Überhaupt tut sich das ganze Militär jetzt angesichts der Jahrhundertfeier der Befreiungskriege einmütig zusammen in dem Streben, es so darzustellen, als ob nur die preußische Armee das Vaterland gerettet hätte; daß es nebenher auch einen König Friedrich Wilhelm III. gegeben hat, will man möglichst ignorieren. […] Auffällig war mir in Berlin, eine wie scharfe Strömung das Militär gegen S. M. hat. Gerade darum haben sie sich alle zusammengetan, das Werk der Freiheitskriege wie das alleinige Werk der Armee hinzustellen; dem Hohenzollernhaus soll einmal gründlich klargemacht werden, daß es ein Nichts neben der Armee sei!!“22

Die Befreiungskriege und auch die Konvention von Tauroggen galten für das Militär als Legitimation für ihren politischen und gesellschaftlichen Führungsanspruch. Im Ersten Weltkrieg gipfelte dies in einer Art Militärdiktatur unter der Dritten Obersten Heeresleitung.

Doch noch herrschten im Kaiserreich die Hohenzollern und die offizielle Darstellung der Befreiungskriege unterlag der so genannten Hohenzollern-Legende, die dem Monarchen Friedrich Wilhelm III. einen übersteigerten Anteil an der Befreiung Deutschlands von Napoleon zuwies. In der Formulierung „Der König rief, und Alle, Alle kamen“23 wurde die Volkserhebung in ihr Gegenteil verkehrt und zu einem Gehorsamsakt gegenüber dem Monarchen umgedeutet. So verwundert es nicht, dass durch diese Darstellung Gerüchte entstanden, die besagten, dass Yorck gar nicht eigenmächtig die Neutralisierung seiner Truppen entschieden, sondern auf geheimen Befehl von Friedrich Wilhelm III. gehandelt hätte. Allerdings erhielt die Hohenzollern-Legende durch die moderne historische Forschung erste Risse. Ende des 19. Jahrhunderts standen sich in der deutschen Geschichtswissenschaft zwei Denkansätze unversöhnlich gegenüber, die man zum einen liberal-demokratisch und zum anderen monarchisch-konservativ nennen kann.

Der erste Denkansatz setzte das Volk in den Vordergrund und interpretierte die Befreiungskriege als Freiheitskriege, also nicht nur als Kampf gegen Napoleon, sondern ebenso als Kampf für konstitutionelle Rechte. Der zweite Denkansatz stellte Friedrich Wilhelm III. im Sinne der Hohenzollern-Legende ins Zentrum. Nach der Konvention waren bereits Zweifel laut geworden, Yorck habe gar nicht auf eigene Faust gehandelt. Der monarchisch-konservative Ansatz nahm diese Zweifel auf und versuchte sie durch angebliche Beweise zu untermauern, die allerdings einer genauen Prüfung nicht Stand halten konnten. Den Höhepunkt der Hohenzollern-Legende stellt der aus dem Jahre 1905 stammende Aufsatz des oben bereits erwähnten Friedrich Thimme dar, der zu dem Schluss kam: „Es darf somit wohl als erwiesen gelten, daß Friedrich Wilhelm, wie er zu einem guten Teile die Seele des großen Reformwerkes gewesen ist, so auch als der geistige Urheber der Konvention von Tauroggen zu betrachten ist.“24

Dieser Aufsatz war Wasser auf die Mühlen der monarchisch-konservativen Denkschule. Hier liegt eine extreme Instrumentalisierung der Konvention von Tauroggen vor. Thimme gelingt die Quadratur des Kreises, wenn er Tauroggen zur Stärkung der preußischen Monarchie heranzieht. Im Unterschied dazu hatte die seit Droysen positive Einschätzung der Konvention von Tauroggen einen Schatten auf die Person Friedrich Wilhelms geworfen und dessen Entscheidungsschwäche offenbart. Laut Thimme sollte die Konvention im Geheimen von langer Hand von Friedrich Wilhelm geplant und Yorck somit nur ein gehorsamer Untertan gewesen sein. Wären ihm nachfolgende Historiker gefolgt, wäre die Hohenzollern-Legende in der Geschichtsschreibung in Stein gemeißelt gewesen und der Yorcksche Geist wäre als eine bloße Erfindung Droysens abgestempelt worden. Thimme bestätigte Droysens positive Einschätzung der Konvention zwar, verkehrte dessen Intention aber in ihr Gegenteil, indem er Friedrich Wilhelm III. als Verantwortlichen nannte. Dem Mythos des preußischen Offiziers, der seinem eigenen Gewissen unterworfen eigenmächtig handelte, wäre somit jeglicher Boden entrissen worden, und die Entwicklung des eigenständig denkenden Offiziers wäre um einen wichtigen Meilenstein ärmer gewesen. Die Kontroverse um Tauroggen zog sich bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges und fand keinen Abschluss. Die Abdankung Wilhelms II. und der verlorene Weltkrieg entzogen der Kontroverse die Grundlage. Nüchtern und unspektakulär bestätigte die Arbeit Walter Elzes 1926 die Eigenmächtigkeit Yorcks.25 Widerspruch regte sich nicht, sodass die Hohenzollern-Legende blieb, was sie war: eine Legende.

Der Erste Weltkrieg hatte die Kontroverse um Tauroggen unter den Historikern schlagartig beendet, doch bot die Konvention nun einer anderen Gruppe Stoff für Auseinandersetzungen: den Militärs. Hatte in Friedenszeiten wie bei Prinz Friedrich Karl von Preußen 1860 die Frage im Raum gestanden, ob sich die Konvention von Tauroggen wiederholen könnte, so ging diese theoretische Fragestellung nun in eine praktische Überlegung über. Der Zeitraum zwischen dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 und der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles am 28. Juni 1919 war von zahlreichen Gedankenspielen geprägt, die eine Weiterführung des Krieges vorsahen. Am 19. Juni 1919 traten der preußische Kriegsminister Walther Reinhardt, Reichswehrminister Gustav Noske, der Erste Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung (OHL) Wilhelm Groener sowie einige Generäle zusammen, um die militärische Lage einzuschätzen.26 Es wurden Argumente für und wider eine Weiterführung des Krieges vorgebracht. Am Ende der Besprechung bot sich General Otto von Below für die „Yorckrolle“ an, falls die deutsche Regierung den Friedensvertrag unterzeichne, erklärte aber gleichzeitig, sich nur im Falle einer Befürwortung durch die OHL einer Aufstandsbewegung anzuschließen. Am 22. Juni informierte von Below in einem Brief Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, den Chef des Generalstabes des Heeres, von seinem Vorhaben und forderte ihn auf, sich an die Spitze eines militärischen Aufstands zu setzen. Mit einem Machtwort erteilte Hindenburg sämtlichen Aufstandsplänen eine Absage und enthob von Below seines Postens.27

Weder die politische Lage 1918/19 noch die persönliche Verfassung von Belows, welcher sich „vom Gefühlsausbruch zur Auflehnung hinreißen ließ“, wie Walther Hubatsch 1966 schrieb28, boten eine Grundlage für eine Neuauflage von Tauroggen: Yorcks Entscheidung erfolgte nach gründlicher Überlegung, die zwar mit einem patriotischen Pflicht- und Ehrgefühl kompatibel war, aber nicht aus einem spontanen Gefühlsausbruch resultierte. Darüber hinaus handelte Yorck, gerade weil er keine Befehle von Friedrich Wilhelm III. empfangen hatte; von Below indes wollte sich über die Entscheidung einer legitimen Regierung hinwegsetzen, was einem militärischen Putsch entsprochen hätte. Yorck hatte in Unkenntnis des monarchischen Willens stets die Hoffnung gehegt, im Sinne seines Königs zu handeln. Und schließlich wollte von Below auch die Verantwortung nicht übernehmen, sondern diese der OHL zuschieben. Yorck hingegen war bereit, sämtliche Folgen zu tragen und war sich der Reichweite seiner Entscheidung mit ihren möglichen negativen Konsequenzen für seine Person und Preußen voll bewusst. Dies kann bei von Below bezweifelt werden.

Auch nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags standen deutsche Freikorps noch im Baltikum und ein Abzug dieser Truppen war nicht selbstverständlich. Auch hier boten das Jahr 1812 und Tauroggen eine scheinbare Analogie, die von nationalistischen Publizisten bereitwillig aufgegriffen wurde. So schrieb Edgar von Schmidt-Pauli 1936 über den Kommandanten der Freikorps der ‚Eisernen Division’ Major Josef Bischoff, der den befohlenen Abtransport der Freikorps hatte verhindern wollen:

„Es liegt nahe, diesen Entschluß Bischoffs mit der Rebellion Yorcks in Tauroggen zu vergleichen. […] Denn damals wollte Yorck Preußen an die Seite Rußlands zwingen, um dadurch den Freiheitskampf gegen Frankreich einzuleiten. Sicherlich schwebte auch Major Bischoff […] letzten Endes der Gedanke vor, mit weißrussischer Hilfe einen geordneten russischen Staat wieder zu errichten, und von dieser Plattform aus auch die Wiederauferstehung Deutschlands zu betreiben.“29

Auch hier ist jegliche Analogie nur scheinbar und oberflächlich. Der Begriff „Rebellion“ gibt der Konvention den fälschlichen Anschein einer Widerstandshandlung.

In der Weimarer Republik wurden Yorck und die Konvention von Tauroggen wieder historisch betrachtet. Doch das Interesse am Thema war sichtlich geschwunden, was sich anhand der Anzahl der Publikationen ersehen lässt. So ragen hier ausschließlich die Arbeiten Leo Adams von 192330 und Walter Elzes von 192631 heraus.

Während des Dritten Reiches spielte die Konvention von Tauroggen keine herausragende Rolle, auch wenn Yorck und die Konvention wie so viele andere historische Persönlichkeiten und Ereignisse im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie umgedeutet wurden. Die Befreiungskriege wurden als „totaler Krieg“ gegen den „gallischen Imperialismus“ interpretiert, die preußischen Reformen als Ausdruck einer wiederkehrenden germanischen Volksgemeinschaft gerühmt. Die Aufstellung der Landwehr sah man in der Tradition eines germanischen „Widerstandsrechts“.32 So wurde auch die Konvention von Tauroggen als Akt des Widerstands gedeutet. In dem Moment, als Friedrich Wilhelm III. die Pflichten seines Amtes verletzt habe, indem er seine Truppen „gezwungen“ habe, an der Seite des Erbfeindes zu kämpfen, habe er seinen königlichen Rang verloren und es sei somit folgerichtig gewesen, dass sich das Volk gegen ihn erhob.33 Zwar galt Yorck als Vorbild für „Dienstauffassung, Pflichttreue und verantwortungsbewußte[n] Gehorsam“34, aber just das, was Droysen an Yorcks Entschluss als glorreich erachtet hatte, wurde Yorck hier abgesprochen, nämlich der Entschluss aus eigenem Bewusstsein und eigener Verantwortung heraus. Nach nationalsozialistischer Auffassung hatte „nicht der Einzelne, […] sondern das Volk […] ein Widerstandsrecht gegen den Monarchen, der die Lebensbedingungen der Nation verletzt. Der Fahneneid bindet das Heer nicht mehr, wenn diesem befohlen wird, an der Seite des Erbfeindes zu kämpfen.“35 Yorcks Rolle war hier also reduziert auf die des Vollstreckers des Volkswillens.

Der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 und die Besetzung Polens ließen in nationalkonservativen Kreisen die Hoffnung „einer Wiederanknüpfung an die Traditionen preußisch-russischer Solidarität im geteilten Polen“ auf Basis eines Tauroggen-Mythos entstehen.36 Doch Hitler hatte bekanntermaßen andere Pläne mit Russland, für die ein Tauroggen-Mythos ganz und gar nicht hilfreich war. Während des Zweiten Weltkrieges instrumentalisierte das Nationalkomitee ‚Freies Deutschland’ (NKFD), die Vereinigung der zur Sowjetunion übergelaufenen deutschen Militärs und Vorläufer des Bundes Deutscher Offiziere (BDO), die Konvention von Tauroggen im Sinne der russisch-deutschen Waffenbrüderschaft. So schrieb das NKFD in einem Aufruf an die Wehrmacht 1943:

„Wir haben in unserer Geschichte ein großes Vorbild. Vor hundertdreißig Jahren wandten sich, als noch deutsche Truppen als Feinde auf russischem Boden standen, die besten Deutschen, vom Stein, Arndt, Clausewitz, Yorck und andere, von Rußland aus über die Köpfe verräterischer Machthaber hinweg an das Gewissen des deutschen Volkes und riefen es auf zum Freiheitskampf.“37

Die Antwort der Wehrmachtsführung folgte postwendend:

„Eine besondere Unverschämtheit stellt die Erinnerung an die deutschen Helden der Befreiungskriege, Yorck, Clausewitz, Arndt und den Freiherrn vom Stein, dar. Sie kämpften ja nicht gegen Deutschland, auch nicht gegen das damals in Deutschland bzw. Preußen herrschende System, das Königtum, sondern sie riefen an der Seite des russischen Verbündeten die Heimat auf zum Kampf gegen den französischen Feind, gegen Napoleon. Sie wollten damit dem König von Preußen keineswegs in den Rücken fallen, sondern ihm nur den Rücken stärken. Diese historische Reminiszenz ist daher so albern, daß man gerade an ihr die Dummheit des ganzen Manifestes erkennen kann.“38

Von einem germanischen Widerstandsrecht ist hier keine Rede mehr. Dies ist zum einen der Kriegsrhetorik geschuldet, die dem Feind gegenüber keine Zweifel an der eigenen politischen Führung aufkommen lassen durfte, zum anderen dem unterschiedlichen Geschichtsverständnis von Militärs und Historikern nationalsozialistischer Prägung. Der militärische Widerstand in Deutschland um die Männer des 20. Juli hielt sich mit solchen oberflächlichen Analogien zurück. Es ist nicht bekannt, dass die Konvention von Tauroggen als Argument für den Widerstand angeführt worden wäre, trotz oder vielleicht gerade weil mit Peter Graf Yorck von Wartenburg ein Nachfahre des Feldmarschalls in ihren Reihen stand.39 Einzig in einer Unterredung von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit Feldmarschall Erich von Manstein am 26. Januar 1943, in der es um die Gewinnung Mansteins für den Widerstand ging, fiel das Wort Tauroggen. Alexander Stahlberg, Ordonanz-Offizier von Mansteins, schilderte die Szene 1987 wie folgt:

„Dann hörte ich aus dem Zimmer des Feldmarschalls ein Wort, das mich erstarren ließ. Stauffenberg hatte es gesagt: ‚Tauroggen’. Es folgte eine Pause. Dann kam Mansteins Stimme, in großer Erregung: Tauroggen habe mit der augenblicklichen Lage nicht das Geringste zu tun. Stauffenberg möge sich mit solchen Gedanken gefälligst zurückhalten. Der aber parierte geschickt: Der Herr Feldmarschall habe ihn offenbar mißverstanden; mit Tauroggen habe er nicht im Entferntesten sagen wollen, daß man einen Fühler zu den Russen ausstrecken solle. Im Gegenteil, davon könne überhaupt keine Rede sein. Was er mit Tauroggen sagen wolle, sei die Überlegung, ob man nicht auf irgendeine Weise vollendete Tatsachen schaffen solle. Und wörtlich: ‚Auch Tauroggen barg höchste Loyalität.’“40

Es wird ersichtlich, welche Sprengkraft der Begriff Tauroggen für die Offiziere noch barg. Wenn Stauffenberg die Begriffe „Loyalität“ und „Tauroggen“ in einem Atemzug erwähnt, so tritt hier noch einmal der Yorcksche Geist im Droysenschen Sinne zu Tage, der gegen Kadavergehorsam und für ein wertebetontes Soldatentum steht, das sich autonom zu eigenen Werten bekennt. Dieser Sprengkraft Tauroggens waren sich auch die Westalliierten bewusst. Im so genannten Herman-Dossier vom Dezember 1943 wurden die Bedingungen einer Zusammenarbeit mit der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ diskutiert. Eine mögliche Kooperation wurde mit den Worten beschrieben: „[...] a bold act of true patriotism, comparable to the Tauroggen Convention concluded by the Prussian General Yorck with the Russians 1812.“41 Zu einer Zusammenarbeit kam es bekanntermaßen aber nicht.

Im Zweiten Weltkrieg hatte die Konvention von Tauroggen also propagandistische Bedeutung. Einer Analogie, wie sie im Aufruf des NKFD gezogen wurde, oder einem Vergleich, wie er im Herman-Dossier gezogen wurde, fehlten historisch betrachtet die Grundlagen. Preußen war nicht das nationalsozialistische Deutschland, die Sowjetunion nicht das Russland Alexanders I. und Friedrich Wilhelm III. nicht Adolf Hitler. Es zeigt sich, dass Tauroggen zu einem politischen Schlagwort geworden war. Dies zeigt beispielsweise Mansteins erste Reaktion auf Stauffenbergs Erwähnung Tauroggens, mit dem in erster Linie eine deutsch-(sowjet-)russische Zusammenarbeit assoziiert wurde.

Nach 1945 hatte die deutsche Teilung auch die Teilung der deutschen Historikerzunft zur Folge. Durch die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges tat man sich in der Bundesrepublik schwer mit dem Erbe der Befreiungskriege, da diese untrennbar mit Preußen verbunden waren und diesem 1947 für aufgelöst erklärten Staat das Stigma des Militarismus anhing, an den man sich nicht positiv erinnern mochte. So überließ man die Erinnerung und die Beschäftigung mit den Befreiungskriegen zum großen Teil zunächst der Geschichtsforschung der DDR, die diese für ihre ideologischen Zwecke instrumentalisierte. Die ideologischen Zwecke bestanden hinsichtlich der Befreiungskriege hauptsächlich darin, die (ost-)deutsch-russische Waffenbrüderschaft historisch zu legitimieren und die Rolle der ‚Massen‘ im Sinne der marxistisch-leninistischen Historiographie zu betonen. Somit ist Yorck auch hier wieder nur ein Vollstrecker, der dem Drängen des Volkes oder der ‚Massen‘ nach einer Loslösung vom Bündnis mit Frankreich nachgegeben hat.42

Ebenso besitzt die Tat Yorcks hier wieder den Charakter des Widerstands gegen das reaktionäre Königtum, wie es beispielsweise bereits im Titel der Arbeit von Helmut Bock „Rebell im Preußenrock“ von 1963 anklingt.43 Um das Bündnis der DDR mit der Sowjetunion als eine historische Gesetzmäßigkeit darzustellen – mit der simplifizierenden Aussage, dass es Deutschland immer nur in einem Bündnis mit Russland gut gehen könne –, wurde der Tauroggen-Mythos nun in eine historische Kontinuität deutsch-russischer Freundschaft eingebettet. Hierbei steht Tauroggen 1812 am Anfang, gefolgt vom Rückversicherungsvertrag Bismarcks mit Russland 1887 und dem Vertrag von Rapallo 1922. Tauroggen war nun nicht mehr nur Schlagwort, sondern eine politische Rezeptur geworden.44

Die Instrumentalisierung des Tauroggen-Mythos nach 1945 im Sinne eines deutsch-russischen Bündnisses gab es vereinzelt auch im Westen Deutschlands. 1978 wird im Ostpreußenblatt aus einem Leserbrief zitiert: „ …wie damals der General Yorck wirklich gemeinsame Sache mit den Russen machen. Preußen ist nur wieder groß geworden, weil Rußland es so wollte.“45 Hier klingt die oben erwähnte Vereinfachung durch. Das Ostpreußenblatt reagierte auf diesen Leserbrief mit einem Artikel zu Tauroggen im Vergleich mit der Weltsituation 1978 und schreibt:

„Also folgert unser Briefschreiber, eine radikale Wendung der bundesdeutschen Außenpolitik, d. h. ein Frontwechsel von West nach Ost müßte sich auszahlen wie in den Monaten und Jahren, die der Nacht vom 30. Dezember 1812 folgten. Wir wollen unserem Leser die patriotische Pflicht, auf die er glaubt, sich berufen zu müssen, nicht streitig machen. Doch halten wir uns verpflichtet, ihm darzulegen, weshalb nach unserer Meinung sein Beispiel keine Nachahmung finden kann.“

Das Ergebnis ist, dass Deutschland und letzten Endes Europa in Zeiten des Kalten Krieges nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die wichtigen Entscheidungen wurden 1978 in Washington und Moskau gefällt:

„Ihre Interessengrenzen gehen mitten durch Europa, mitten durch Deutschland. So wie Mitteldeutschland ganz eindeutig unter die Botmäßigkeit des Kreml gezwungen ist, war die Bundesrepublik vor die Notwendigkeit gestellt, sich dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis anzuschließen. Wenn Bonn auch heute wieder ein höherer Stellenwert beikommt (nicht zuletzt durch die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik), so sollten wir uns hüten anzunehmen, wir wären irgendwo ein Zünglein an der Waage des Schicksals. […] Es gibt keinen Frontwechsel à la Tauroggen mehr; statt der Konfrontation spricht man von einer Annäherung und von einem friedlichen Nebeneinander. Diesen Status […] erhalten zu können, wäre bereits ein Gewinn. Mehr zu erwarten, erscheint uns jedoch vermessen.“

Die Absurdität einer Wendung der Bundesrepublik 1978 hin zum Warschauer Pakt außer Acht gelassen, ist zu konstatieren, dass Tauroggen auch im Westen nach wie vor als politisches Schlagwort bzw. Rezeptur Gewicht besaß.

Nach Ende des Kalten Krieges, der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Untergang der Sowjetunion ist der politischen Instrumentalisierung eines Tauroggen-Mythos im Sinne einer solchen Ost-West-Orientierung die Grundlage entzogen. Sowohl Staaten im ,Westen‘ wie im ,Osten‘ sind längst Partner für Deutschland und ein wieder selbstbestimmtes Europa.

Was kann uns Tauroggen heute noch vermitteln? Mit Sicherheit keine politische Rezeptur. Neben der politischen und ideologischen Aufladung, die Tauroggen im Laufe der Jahre erfuhr, kann das Ereignis Beispiel sein für die Eigenverantwortlichkeit von Offizieren. Yorck hat dem Gedanken der Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, aus militärischer Sicht am energischsten Ausdruck verliehen. Die politische Aufladung der Tat Yorcks blendete stets den Offizier aus, der 1812 diese schwere Entscheidung allein treffen und mit den Konsequenzen leben musste. All den oben genannten Interpretationen des sogenannten Tauroggen-Mythos ist gemein, dass sie die Person Yorcks auf die eines Vollstreckers eines höheren Willens – sei es des geheimen königlichen Befehls, des Volkswillens oder des Willens der Massen – reduzieren und somit die Konvention von Tauroggen jener Eigenschaft berauben, die sie auszeichnet und nach Droysen so glorreich macht: die eigenverantwortliche Entscheidung eines Individuums, das nach eigenem Wissen und Gewissen handelt.

Allerdings bietet die Person Yorcks genügend Angriffsfläche, um seine Motivation mit Verweis auf einen höheren Willen und nicht aus seinem Charakter heraus zu erklären. Yorck galt als politisch konservativ und nahm eine reservierte Haltung gegenüber den preußischen Reformen ein. Deutlich macht dies seine Reaktion auf die Entlassung des Reformers Freiherr vom Stein 1808 als preußischer Staatsminister: „Ein unsinniger Kopf ist schon zertreten, das andere Natterngeschmeiß wird sich in seinem eigenen Gift selbst auflösen.“46 Dieses Zitat gilt vielen als Beweis für Yorcks geradezu reaktionären Konservatismus. Wie konnte jemand mit einem derartig konservativen Weltbild eine solch revolutionär anmutende Tat vollbringen?

Yorcks Verhalten am 30. Dezember 1812 gab vielen Historikern Rätsel auf. Eine Lösung bot 1966 der amerikanische Historiker Peter Paret an. In seiner Darstellung „Yorck and the Era of Prussian Reform 1807-1815“ setzte Paret Yorck in Beziehung zu den preußischen Reformen.47 Hierbei wird deutlich, dass Yorcks politischer Konservatismus von nahezu allen Historikern fälschlich auch auf sein militärisches Wertesystem übertragen wurde und somit sein Charakter und seine innere Haltung nur aus seiner politischen Überzeugung heraus gedeutet wurde. Dies ist allerdings zu kurz gegriffen, wie Paret zeigt. Yorck war militärisch keineswegs konservativ, sondern hatte immer ein Auge für Neuerungen. So führte er beispielsweise bereits um 1800 die Tirailleurtaktik in der militärischen Ausbildung ein – laut Paret die größte militärische Innovation in Preußen zwischen dem Siebenjährigen Krieg und 1806.48 Unter Yorcks militärischen Prinzipien ragt in Bezug auf Tauroggen das Prinzip der Selbstständigkeit heraus. Daneben legte er bei der Ausbildung seiner Soldaten ebenfalls Wert auf Professionalität, Ergänzung der Theorie durch Praxis und Disziplin, die aber nicht durch Androhung von Strafen erreicht werden sollte.49 Mit seinen Ansichten zum Militärdienst und zur militärischen Ausbildung war Yorck seiner Zeit weit voraus.

So wirkt die Konvention von Tauroggen angesichts des oben genannten Prinzips der Selbstständigkeit eben „nicht mehr als unerklärbare Paradoxie, sondern als Tat eines unabhängigen Geistes“, wie bereits 1968 Peter G. Thielen in seiner Rezension zu Parets Buch urteilte.50 Die scheinbare Unvereinbarkeit von Yorcks Charakter und seiner Tat kann somit als ausgeräumt betrachtet werden. Yorck entschied aus eigenem Antrieb heraus, aus Pflichtbewusstsein, das eigenes Denken nicht verbot, sondern forderte. Sämtliche Erklärungsversuche, die die Tat auf bestimmte ideologische Kräfte zurückzuführen suchen, weil die revolutionäre Tat doch Yorcks Charakter diametral entgegengestanden hätte, erweisen sich somit als schief gelagert. Denn die Prämisse, von der sie ausgehen, stimmt nicht. Yorck blieb an jenem Tag im Dezember 1812 durchaus seinen eigenen Werten treu und trat im Bewusstsein der möglichen Konsequenzen für das ein, was er für richtig hielt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  • 1. Stellvertretend seien genannt: Andreas Platthaus, 1813. Die Völkerschlacht und das Ende der Alten Welt, Berlin 2013 und Hans-Dieter Otto, Für Einigkeit und Recht und Freiheit. Die deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon 1806–1815, Ostfildern 2013.
  • 2. Für eine ausführliche Darstellung siehe Michael Fröhlich, Tauroggen 1812. Eine Konvention im Spannungsfeld von Krieg, Diplomatie und Tradition, Bonn 2011.
  • 3. Johann Gustav Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg, Bd. 1, Leipzig 1913, S. 364. Ebenso siehe Günter Brakelmann, Peter Yorck von Wartenburg. 1904-1944. Eine Biographie, München 2012, S. 9-15. In einer kurzen Zusammenfassung der Familiengeschichte nimmt die Konvention von Tauroggen einen wichtigen Platz ein, die u.a. mit o.a. Zitat geschildert wird. Die kurze, aber pointierte Darstellung Brakelmanns streicht die Bedeutung Tauroggens „als Beispiel für die politische Mitverantwortung des militärischen Befehlhabers“ heraus, doch lässt sich der Eindruck einer patriotischen Affekthandlung für den Leser nicht von der Hand weisen.
  • 4. Julius Eckardt (Hg.), York und Paulucci. Aktenstücke und Beiträge zur Geschichte der Convention von Tauroggen (18./30. Dezember 1812), Leipzig 1865.
  • 5. Der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. berichtet von der Reaktion seines Vaters, König Friedrich Wilhelm III.: „Demungeachtet [der scheinbaren Kapitulation Yorcks] aber dauerte die gehobene Stimmung unseres Vaters sichtlich fort…“ Zit. nach: G.H. Pertz, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. 3, Berlin 1869, S. 735.
  • 6. Hagemann, Karen, „Mannlicher Muth und teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens (= Krieg in der Geschichte, Bd. 8), Paderborn u.a. 2002, S. 210 f.
  • 7. Die Konvention ist abgedruckt bei C.G. Dümge (Hg.), Allgemeines Diplomatisches Archiv für die neueste Zeitgeschichte. Enthaltend eine vollständige Sammlung aller bekannt gewordenen und ferner bekannt werdenden Actenstücke seit Entstehung des gegenwärtigen Europäischen Staatenbundes wider Frankreichs Uebermacht, Bd. 1, Heidelberg 1814, S. 40 f.
  • 8. Johann Gustav Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg, Bd. 2, Leipzig 1913, 21 f.
  • 9. Leopold von Ranke, Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793-1813, Bd. 3, Leipzig ²1881, S. 266; Die französische Zeitung Le Moniteur Universel vom 12.01.1813, S. 47 schreibt ganz im Sinne der antienglischen Propaganda: „L’Angleterre a employé, sans doute, pour préparer l’éternal déshonneur du général Yorck ...“
  • 10. Vgl. Helmuth K.G. Rönnefarth, Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz. Ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen. Teil II, Bd. 3, Würzburg ²1958, S. 241.
  • 11. Rudolf Ibbeken, Preußen 1807-1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 5), Köln, Berlin 1970, S. 436.
  • 12. Leo Adam, Kritische Erörterungen zur Konvention von Tauroggen, Frankfurt am Main 1923, S. 146: „Über Tauroggen sprach der König nie; es war, als wollte er über jenes Ereignis den Schleier der Vergessenheit breiten.“
  • 13. Theodor Schiemann, Zur Würdigung der Konvention von Tauroggen, in: HZ 84 (1900), S. 210-243, hier S. 217.
  • 14. Karl Demeter, Tauroggen – Zur Problematik von Gehorsam, Eid, Verantwortung, in: Der deutsche Soldat in der Armee von morgen (= Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik e.V. Mainz, Bd. 4), München 1954, S. 424.
  • 15. Heinrich Aster, Die Gefechte und Schlachten bei Leipzig im October 1813. Großentheils nach neuen, bisher unbenutzten, archivarischen Quellen dargestellt, Bd. 1, Dresden 1852, S. 36.
  • 16. Droysen, Yorck, Bd. 1, S. 366.
  • 17. Ebd., Bd. 1, S. 366.
  • 18. Ebd., Bd. 2, S. 14.
  • 19. Ebd., Bd. 1, 54.
  • 20. Rudolf Hübner (Hg.), Johann Gustav Droysen. Briefwechsel, Bd. 2 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 26), Jena 1929 (ND Osnabrück 1967), S. 931.
  • 21. Zit. nach Karl Demeter, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650-1945, Frankfurt am Main 41965, S. 253.
  • 22. Zit. nach Annelise Thimme (Hg.), Friedrich Thimme 1868-1938. Ein politischer Historiker, Publizist und Schriftsteller in seinen Briefen (= Schriften des Bundesarchivs 46), Boppard am Rhein 1994, S. 116 f.
  • 23. Ludwig Hahn, Geschichte des preußischen Vaterlandes, Berlin 51860, S. 491.
  • 24. Friedrich Thimme, König Friedrich Wilhelm III., sein Anteil an der Konvention von Tauroggen und an der Reform von 1807 – 1812, in: FBPG 18 (1905), S. 1-59, hier S. 59.
  • 25. Walter Elze, Der Streit um Tauroggen, Breslau 1926, S. 72: „… so daß die Streitfrage nun beigelegt werden kann.“
  • 26. Hagen Schulze (Bearb.), Das Kabinett Scheidemann. 13. Februar bis 20. Juni 1919 (= Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, Bd. 1), Boppard am Rhein 1971, S. 476-492.
  • 27. Walther Hubatsch, Hindenburg und der Staat. Aus den Papieren des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von 1878 bis 1934, Göttingen u.a. 1966, S. 50 f.
  • 28.
  • 29. Edgar von Schmidt-Pauli, Geschichte der Freikorps 1918-1924. Nach amtlichen Quellen, Zeitberichten, Tagebüchern und persönlichen Mitteilungen hervorragender Freikorpsführer, Stuttgart ³1936 (Erstaufl. 1936), S. 124.
  • 30. Adam, Erörterungen.
  • 31. Elze, Streit.
  • 32. Vgl. Franz Riedweg (Hg.), Aufbruch zur Freiheit 1813-1814-1815. Aus zeitgenössischen Schriften (= Soldat und Staatsmann. Schriftenreihe der Aktion, Heft 4), Berlin, Leipzig 1941, S. 7; Ernst Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, Hamburg ²1943, S. 163; Hans Haussherr, Deutsche Bewegung und Staatsführung 1807/9, in: HZ 167 (1943), S. 285-309, hier S. 293.
  • 33. Huber, Heer und Staat, S. 163.
  • 34. Vgl. das Vorwort von 1934 für Johann Gustav Droysen, York von Wartenburg. Ein Leben preußischer Pflichterfüllung, Berlin o.J., S. VIII.
  • 35. Huber, Heer und Staat, S. 163.
  • 36. Klaus Zernack, Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 440.
  • 37. Das Manifest ist abgedruckt bei Gerd R. Ueberschär, Ausgewählte Dokumente zum NKFD und BDO, in: Das Nationalkomitee ‚Freies Deutschland‘ und der Bund Deutscher Offiziere, hg. v. Gerd R. Ueberschär, Frankfurt am Main 1995, S. 264-297, hier S. 268.
  • 38. Ebd., S. 272 f.
  • 39. Brakelmann, Peter Yorck von Wartenburg.
  • 40. Alexander Stahlberg, Die verdammte Pflicht. Erinnerungen 1932 bis 1945, Berlin, Frankfurt am Main ³1988 (Erstaufl. 1987), 269 f.
  • 41. Jürgen Heideking, Christof Mauch, Das Herman-Dossier. Helmuth James Graf von Moltke, die deutsche Emigration in Istanbul und der amerikanische Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS), in: VfZG 40 (1992), S. 567-623, hier S. 590.
  • 42. Reinhold Röder, Zur Geschichte der Konvention von Tauroggen, in: Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung der Befreiungskriege, hg. v. Heinrich Scheel (= Deutsche Historiker-Gesellschaft. Sammelband der Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte von 1789 bis 1815), Berlin 1963, S. 87- 111, hier S. 91.
  • 43. Helmut Bock, Rebell im Preußenrock. Tauroggen 1812, Berlin 1963.
  • 44. Vgl. Günter Stökl, Osteuropa und die Deutschen. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Nachbarschaft, Stuttgart ³1982, S. 126.
  • 45. H. W., Ist Tauroggen wieder möglich? Die ökonomische und politische Integration eines freien Europa wird über unser Schicksal entscheiden. In: Das Ostpreußenblatt. Unabhängige Wochenzeitung für Deutschland vom 07.01.1978.
  • 46. Georg Eckert, Von Valmy bis Leipzig. Quellen und Dokumente zur Geschichte der preußischen Heeresreform, Hannover 1955, S. 116.
  • 47. Peter Paret, Yorck and the Era of Prussian Reform 1807-1815, New Jersey 1966.
  • 48. Ebd., S. 106.
  • 49. Vgl. Fröhlich, Tauroggen, S. 26-31.
  • 50. Peter G. Thielen (Rez.), „Yorck and the Era of Prussian Reform 1807-1815“, in: HZ 206 (1968), 417-419.
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