Workshop, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam, 10.05.-11.05. 2012
Friederike Höhn
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
29. Oktober 2012

Dass der Zweite Weltkrieg längst nicht als "ausgeforscht" bezeichnet werden kann, beweist die Fülle an Publikationen in den letzten Jahren ebenso wie das anhaltende Interesse an diesem Themenkomplex beim akademischen Nachwuchs. Daher lud das Militärgeschichtliche Forschungsamt am 10. und 11. Mai 2012 junge Wissenschaftler_innen aus dem In- und Ausland zum Workshop "Neue Forschungen zum Zweiten Weltkrieg" nach Potsdam ein, um sich über laufende und kürzlich abgeschlossene Projekte, neue Quellen, Methoden und Fragestellungen auszutauschen.

 Ausgehend von einer weiten Definition des Begriffes "Bild" fragten die Beiträge der ersten Tagungssektion, unter der Leitung von JOHN ZIMMERMANN (Potsdam), nach der Produktion, Diffusion und Transformation von visuellen Produkten und Eindrücken des Krieges. Die Aktualität solcher Ansätze zeigt sich im anhaltenden Interesse an der "Visual History" und der Frage nach den Spezifika der Erinnerung über Bilder, die in der Diskussion erörtert wurde. OLLI KLEEMOLA (Turku) stellte sein Forschungsvorhaben zur Untersuchung der offiziellen Kriegsfotografie des Deutschen Reiches und Finnlands im Krieg gegen die Sowjetunion 1941 bis 1944 vor. Mittels eines interdisziplinären und vergleichenden Ansatzes möchte er der Frage nachgehen, inwieweit die finnischen Propagandaorganisationen sich an der Vorgehensweise der deutschen Propagandakompagnien orientierten. Dazu soll im Speziellen darauf eingegangen werden, welches Feindbild durch Fotografien in die Öffentlichkeit transportiert wurde und welche "Bildmuster" (Gerhard Paul) dabei Verwendung fanden. Ausgehend von der Annahme, dass sich das Wissen eines Großteils der deutschen, britischen und US-amerikanischen Bevölkerung um den Zweiten Krieg aus Fernsehdokumentationen wie "Crusade in Europe" (USA, 1949), "The World at War" (GB, 1974) oder "Die Deutschen im Zweiten Weltkrieg" (ZDF, 1985) speist, stellte DANNY SCHÄFER (Berlin) in seinem Beitrag seine bisherigen Ergebnisse zu den Veränderungen in der geschichtsdidaktischen Gestaltung solcher Formate seit den späten 1940er Jahren vor. Dabei spiegeln sowohl die Inhalte als auch die verwendeten Stilmittel die Geschichtskultur ihrer jeweiligen Entstehungszeit wider. Zudem legte Schäfer dar, dass es durch die Anpassung geschichtlicher Inhalte an zuschauer- und quotenfreundliche Vermittlungsformen zu Verkürzungen und dabei in nicht geringem Maße auch zu Verzerrungen komme, die die Entstehung von Mythen begünstige. JÖRG HILLMANN (Brüssel) zeichnete in seinem Beitrag die Entwicklung der bundesdeutschen Marinegeschichtsschreibung und Erinnerungspflege seit 1945 nach, deren Geschichtsbild lange von glorifizierenden Tendenzen sowie vom Anspruch der Deutungshoheit der Zeitzeugen geprägt gewesen war. Erst seit den 1980er Jahren und verstärkt seit 2000 eine unabhängige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema möglich geworden. Es fehle aber weiterhin, so Hillmann, nicht nur an reflektierter Forschung, sondern vor allem auch an einer Zusammenfassung bisheriger, vor allem auf lokaler Ebene erzielter Forschungsergebnisse, die dem Umstand der zeitlich und regional bedingten Pluralität des Zusammenbruchs der Marine Rechnung trage. Diese habe kein singuläres Kriegsende, sondern eine Vielzahl von Kriegsenden erlebt, was eine künftige Geschichte des Zusammenbruchs der deutschen Marine berücksichtigen müsse.

Der in der zweiten Sektion unter der Leitung von MARKUS PÖHLMANN (Potsdam) behandelte Themenkomplex "Justiz und Gefangenenwesen" war bereits unmittelbar nach dem Krieg durch die Nürnberger Prozesse virulent geworden und blieb seither ein vielbeachtetes Thema der Forschung. In den drei sehr unterschiedlichen Beiträgen wurde deutlich, welche neuen Wege weiterhin beschritten werden können und welche Fragen noch immer ungeklärt sind. KERSTIN THEIS (München) stellte in ihrem Vortrag das Gericht des Ersatzheeres als Ort der Begegnung und Berührung zwischen Zivilbevölkerung und Truppe in den Mittelpunkt. Diesem sei die Aufgabe zugefallen, das Ansehen der Wehrmacht an der Heimatfront zu stärken, was sich beispielsweise im hohen Strafmaß für Disziplinarvergehen ablesen lasse. Auf der Basis von Justizakten ließen sich, so Theis, nicht nur die Alltagspraktiken eines Gerichts herausarbeiten. Diese können ebenso als Quelle für das zivil-militärische Verhältnis in Kriegszeiten herangezogen werden und böten ein hohes Potential für weitere sozialgeschichtliche Untersuchungen.

Mit dem deutschen Kriegsgefangenwesen und dem auf diesem Feld ausgefochtenen Konkurrenzkampf zwischen Wehrmacht und SS befasste sich im Anschluss CHRISTIAN KRETSCHMER (Freiburg). Im Zuge einer allgemeinen Machtausweitung der Sicherheitsbehörden in der zweiten Kriegshälfte erhöhte sich mit der Überstellung wiederaufgegriffener flüchtiger Kriegsgefangener in Konzentrationslager der Einfluss der SS. Der Kontrollentzug aus dem Einflussbereich der Wehrmacht wurde durch Maßnahmen wie den sogenannten Kugelbefehl verstärkt. Dieser, im März 1944 von bislang ungeklärter Seite erlassen, ordnete die Überführung wiederaufgegriffener flüchtiger Offiziere nach Mauthausen und deren dortige Exekution an. Der Befehl, seine Auswirkungen und Opfer seien bislang noch wenig erforscht, so Kretschmer, in Intention und Folgen aber durchaus mit dem "Kommissarbefehl" vergleichbar. JUDITH KESTLER (Würzburg) widmete sich in ihrem Beitrag den Angehörigen der deutschen Handelsmarine in kanadischer Kriegsgefangenschaft. Auf Basis von Erinnerungen, Berichten, Bildern und Briefen sucht sie nach der Auseinandersetzung mit Erfahrung und Bedeutung von Gefangenschaft und analysiert dabei die Kategorien Raum, Zeit und Identität. Die Aneignung des Lagers als Raum durch die Insassen verdeutlichte sie anhand der Mittel der strategischen Beheimatung wie dem Gartenbau.

Die Beiträge von OLIVER WERNER (Jena) und MARTIN BEMMANN (Freiburg) näherten sich auf unterschiedlichen Wegen dem Komplex "Wirtschaft" an, welcher im Zusammenhang von industriellem Volkskrieg und der Mobilisierung aller Ressourcen eine wichtige Rolle spielte und im dritten Panel unter der Leitung von THOMAS VOGEL (Potsdam) verhandelt wurde. Werner nahm die Veränderungen der deutschen Kriegswirtschaft nach der Übernahme des zuständigen Ministeriums durch Albert Speer in den Blick. Hier habe eine Stärkung der Unternehmer zu Ungunsten des Militärs stattgefunden. Die Regionalisierung der Wirtschaftspolitik durch die Errichtung von Rüstungskommissionen auf Gau-Ebene habe sich durch Mitspracherecht und gewisse unternehmerische Freiheiten positiv auf die Mobilisierung und Motivation ausgewirkt. Bemmann widmete sich einem weiteren Desiderat der Forschung, der Geschichte der Holz- und Forstwirtschaft im Rahmen der Kriegswirtschaft, und stellte seine Erkenntnisse zu den außenwirtschaftlichen Maßnahmen, die die Nationalsozialisten im Bereich der europäischen Holzwirtschaft ergriffen hatten, vor. Dabei negierte er, dass die hier erfolgten Bestrebungen reale Versuche zur Etablierung eines europäischen Großwirtschaftsraums unter deutscher Vorherrschaft gewesen seien; eine These, die Klaus Wittmann 1978 aufgestellt hatte. In der Sektion "Wehrmacht", geleitet von John Zimmermann, stellten sich drei Beiträge der Aufgabe, bislang vernachlässigte Untersuchungsansätze zur Sozial- und Alltagsgeschichte zu verfolgen. RANDALL HANSEN (Toronto) berichtete von seinem aktuellen Buchprojekt, welches sich mit Widerstand bzw. Resistenz nach dem 20. Juli 1944 in mikrogeschichtlicher Perspektive auseinandersetzt und nachzeichnet, wie alltägliche Resistenz zur Lebensrettung und zur Bewahrung von Infrastrukturen angewandt wurde. Er stellte hierzu die These auf, dass man im Frühjahr 1945 auf lokaler Ebene von einer offenen Revolte gegen das NS-Regime sprechen muss. Dabei spielten sowohl Auftragsverweigerungen bzw. -verzögerungen durch militärische Entscheidungsträger als auch Verweigerungen deutscher Städte, dem Befehl zur Verteidigung gegen die vorrückenden Alliierten zu folgen, eine Rolle. In seinem Beitrag zur Auftragstaktik setzte sich MARCO SIGG (Zürich) mit diesem bisweilen inflationär gebrauchten Begriff auseinander und stellte die Frage, inwieweit dieses Prinzip in der Wehrmacht überhaupt verankert war. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die Auftragstaktik zwar in einzelnen Elementen zum Tragen kam, jedoch andere Faktoren wie der Dialog und die Nachrichtenverbindungen für das Führungsverhalten deutscher Offiziere ebenso prägend gewesen waren. Er relativierte den Einfluss der Auftragstaktik, stellte in der Diskussion aber klar, dass das Zusammenspiel der Faktoren und Prinzipien von der Persönlichkeit des jeweils Vorgesetzten abhing. Abschließend stellte PETER STEINKAMP (Ulm) einen neuen Quellenbestand vor: eine nahezu vollständige Sammlung der Obduktionsberichte des Heeres, welche 218.000 Sektionsprotokolle umfasst. Sein eigenes Interesse liegt dabei auf der Erforschung von Selbstmordmotiven im Militär. Diese erfolgten in der Wehrmacht zu fast 60 Prozent aufgrund von gesundheitlichen Problemen, woraus Steinkamp folgerte, dass die Abweichung vom Bild des starken, gesunden Mannes und die Sorge, nicht mehr am Krieg mitwirken zu können ein Hauptgrund zur Selbsttötung darstellte. Zudem seien überproportional viele Offiziere unter den Suizidenten auszumachen.

Die letzte Sektion der Tagung unter der Leitung von NICOLE KRAMER (Potsdam) nahm eine der zentralen Fragen für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs auf: den Blick auf das "Andere" und das "Fremde". Der Beitrag von MARION WITTFELD (Wien) zeigte am Beispiel von Frauenzeitschriften, wie sehr die deutsche Kriegsgesellschaft von Abgrenzung geprägt war. Mit Beiträgen über das "richtige Verhalten" beim Heimaturlaub und Hinweisen zum Verfassen von Feldpostbriefen sowie der Vermittlung von Brieffreundschaften zwischen Frauen und Frontsoldaten wurde die NS-Frauenwarte zum Wegweiser durch die Kriegszeit, in dessen Mittelpunkt das Wohlergehen des Ehemanns stand. Die Leserinnen wurden nicht mit politischen Argumenten konfrontiert, sondern auf persönlicher Ebene angesprochen. Die beiden weiteren Beiträge beschäftigten sich mit den Möglichkeiten, Formen und Problemen der Integration des "Fremden" in Form von muslimischen Soldaten in die deutschen Kampfverbände. STEFAN PETKE (Berlin) griff den Begriff der "Volksgemeinschaft" auf, in welche auch Muslime integriert werden sollten. Bei der Aufstellung von "Legionen aus Sowjetvölkern" innerhalb der Waffen-SS wurde deren religiöse Identität, auch in Abgrenzung zur Sowjetunion, ausdrücklich gestärkt und den muslimischen Legionären Sonderrechte eingeräumt. Ihr militärischer Nutzen stand jedoch in keiner Relation zu dem hohen Betreuungsaufwand, was Petke am Beispiel der SS-Division "Handschar" verdeutlichte. Die hohe Desertionsrate im Sommer 1944, bedingt durch das Herannahen der Roten Armee, führte schließlich im November zur faktischen Auflösung der Division. FRANZISKA ZAUGG (Bern) führte am Beispiel der SS-Division "Skanderbeg" aus, inwieweit Vorstellung und Wirklichkeit bei der Konfrontation mit dem "Fremden" divergieren können. Ausgehend von einem romantischen Orientalismus, welcher in nicht geringem Maße von den Romanen Karl Mays geprägt gewesen sei, habe sich ein positives Bild der nordalbanischen Bevölkerung entwickelt. Sie galt demnach als kriegstüchtig, deutschfreundlich und wurde der nordischen Rasse zugeordnet. Dies erleichterte die Integration in das ideologische Konstrukt der SS. Es zeigte sich jedoch rasch, dass die Vorstellungen nicht mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen waren. Weder der militärische Ungehorsam noch Plünderungen oder innerethnische Gewalt ließen sich unter Kontrolle bringen und die Enttäuschung über den scheinbar perfekten Krieger war groß. Der letztendliche Misserfolg der Rekrutierung war, so Zaugg, aufgrund der "realitätsfernen Vorurteile" gegenüber den Nordalbanern also keineswegs überraschend.

Abschließend fasste ROLF-DIETER MÜLLER (Potsdam) die Beiträge des Workshops zusammen: Das gezeigte breite Themenspektrum, das sich Desideraten, neuen Quellenbeständen und neuen Ansätzen gewidmet hatte, sei eine Anregung, bekannte Dinge weiter- oder anders zu denken. Die Zukunft der Forschung zum Zweiten Weltkrieg liege in der Verknüpfung und Überprüfung bisheriger Ergebnisse, in der Öffnung zu angrenzenden Disziplinen und im internationalen Vergleich. Es gelte nun, neue Erkenntnisse als Bausteine in größere Zusammenhänge einzuordnen, wozu diese Tagung einige gute Beiträge habe leisten können.

Insgesamt machte der Workshop deutlich, dass der Zweite Weltkrieg noch viele offene Fragen bereithält. Neben dem Militär rücken andere beteiligte soziale und kulturelle Gruppen in den Fokus, andere Disziplinen bieten Methoden und Werkzeuge zur Quellenerschließung an. Begrüßenswert war die internationale Ausrichtung des Workshops, der zur Erweiterung der Perspektive auf den Krieg beitrug. Allerdings beschränkte er sich wiederum auf den europäischen Raum. Die deutsche Geschichtswissenschaft täte gut daran, sich von der Fokussierung auf den europäischen und nordamerikanischen zu lösen. Gerade ein Krieg, der als "Weltkrieg" bezeichnet wird, sollte in Zeiten der Global History auch unter weltgeschichtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden.