Herbert Obinger, Nikolas Dörr und Lukas Grawe
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
04. Dezember 2017

Die Entstehung und Expansion des westlichen Wohlfahrtsstaates wird in der sozialwissenschaftlichen und historischen Literatur als politische Reaktion auf die sozialen Verwerfungen der Industriellen Revolution, den damit verbundenen Aufstieg der Arbeiterbewegung, die Ausbildung von Nationalstaaten, Säkularisierungs- und Demokratisierungsprozesse sowie auf die Legitimationsnöte autokratischer Regime zurückgeführt.

Das DFG-geförderte Projekt „Allgemeine Wehrpflicht, Militär und Wohlfahrtsstaatsentwicklung in Europa“, das im Oktober 2016 am SOCIUM Forschungszentrum Sozialpolitik und Ungleichheit der Universität Bremen begonnen wurde, hält diese Meistererzählung für korrektur- bzw. ergänzungsbedürftig. Konkret wird die These vertreten, dass (I) militärische Interessen und Machtambitionen des Staates die frühe Sozial- und Bildungsgesetzgebung mit angeleitet haben und (II) das Militär ein relevanter Akteur in diesen Politikfeldern ist. Ob dies auch empirisch zutrifft, ist angesichts eines dünnen und zudem widersprüchlichen Forschungsstandes keineswegs gesichert. Gerade in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung blieben diese Fragen bislang fast gänzlich ausgeklammert.

Ausgangspunkt der Überlegung sind zwei elementare militärpolitische Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum einen haben die meisten kontinentaleuropäischen Länder in diesem Zeitraum die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Zum anderen machte in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts die Militärtechnologie massive Fortschritte (z.B. die Entwicklung des Maschinengewehrs, Fortschritte im Bereich der Artillerie und Marine etc.), wodurch sich die Feuer- und Zerstörungskraft der Waffensysteme dramatisch erhöhte. Aus der Zusammenschau beider Entwicklungen resultierte für die Militärführungen das Szenario, dass ein künftiger militärischer Konflikt zwischen den europäischen Großmächten als industrialisierter Massenkrieg – mit Kontinentaleuropa als Hauptkriegsschauplatz – geführt werden würde. Im Kontext wachsender Spannungen wurden überall in Europa Kriegsvorbereitungsmaßnahmen forciert. Neben rein militärischen Aktivitäten (Aufrüstung, Manövern etc.) umfasste die Kriegsvorbereitung seitens des Staates – so die These des Projekts – auch sozial- und bildungspolitische Maßnahmen, die sich neben den bereits bekannten Motiven auch aus militärischen Interessen und Erfordernissen speisten. Mit anderen Worten: Die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates muss neben den hinlänglich bekannten Antriebskräften auch als ein Produkt einer „sozialen Kriegsrüstung“ im Kontext steigender Spannungen zwischen rivalisierenden Nationalstaaten gesehen werden.

Wie stehen nun die allgemeine Wehrpflicht, militärtechnologische Veränderungen und Sozial- und Bildungspolitik kausal miteinander in Beziehung? Mindestens fünf Kausalmechanismen spielen diesbezüglich eine Rolle:

Erstens fiel die Einführung der Wehrpflicht in eine Zeit rapide fortschreitender Industrialisierung. Die damit verbundenen prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse und der Wandel der Sozialstruktur schlugen sich nicht zuletzt in hohen Untauglichkeitsziffern nieder. Die flächendeckende Musterung lieferte nicht nur erstmals Massendaten zum Gesundheits- und Bildungsstand der männlichen Bevölkerung, sondern diese Daten dürften angesichts der Schrumpfung des Agrarsektors, der lange Zeit das Hauptreservoir für die Rekrutierung gesunder und moralisch zuverlässiger Soldaten bildete, auch militärische Bedenken im Hinblick auf die Erhaltung der nationalen Wehrkraft und der Truppenstärke befördert haben. Diese Motive könnten ein Einfallstor für politische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung der Volksgesundheit darstellen. Beispiele sind Maßnahmen in den Bereichen Ernährung, Arbeitszeit und Arbeitsschutz.

Zweitens wurde mit der Einführung der Wehrpflicht die Frage der Opfergerechtigkeit, also die Verteilung der persönlichen Kriegslasten und -kosten, virulent. Die Wehrpflicht bildete – so die Vermutung – langfristig einen Motor von Gleichheitsbestrebungen. Sie bürdete nämlich den männlichen Staatsbürgen hohe Kosten auf, denen jedoch häufig keine oder nur eingeschränkte soziale und politische Rechte gegenüberstanden. Diese „logic of equal sacrifice“ beförderte die Einführung von progressiven Steuern und die Besteuerung von Erbschaften und Vermögen, indem Nicht-Wehrpflichtigen (in der Regel also wohlhabenden älteren Männern) im Sinne eines Lastenausgleichs höhere Steuern aufgebürdet wurden. Diese Entwicklung auf der Einnahmenseite bildete eine essentielle Grundlage für die Etablierung und Finanzierung sozialer Sicherungssysteme. Auch die als militärisch untauglich Ausgemusterten wurden aufgrund dieser Logik mit einer Steuer belegt, deren Einnahmen z.B. zur Unterstützung der Kriegsinvaliden benutzt wurden. Schließlich kann spätestens für den Kriegsfall angenommen werden, dass die zum Kriegsdienst eingezogenen Männer (aber auch die sie in der Industrie substituierenden Frauen und wehruntauglichen Männer) politische und soziale Rechte als Kompensation ihrer in Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Pflicht erbrachten Opfer und Leistungen eingefordert haben.

Drittens setzte mit der Industrialisierung auch der demografische Übergang ein. Der Rückgang der Geburtenziffern begann zuerst in Frankreich und England und erfasste später alle europäischen Länder. Darauf aufbauende Depopulationsängste und ‑diskurse, außenpolitische Machtambitionen und Expansionsbestrebungen sowie eine Militärdoktrin, welche die „Überlegenheit der Zahl“ ins Zentrum rückte, dürften die Forcierung pronatalistischer Bevölkerungspolitik begünstigt haben, da aus Sicht der Militärführungen meist ein linearer Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl und militärischer Schlag- und Wehrkraft unterstellt wurde. Damit rückten junge Frauen und Mütter als zentrale Zielgruppe von Staatsintervention in den Blickpunkt. Neben pronatalistisch motivierten Arbeits- und Mutterschutzregelungen kommen militärische Interessen auch als Impulsgeber für die frühe Familienpolitik (z.B. Geldleistungen und Steuerbegünstigen) in Frage. Die mit Kriegshandlungen verbundenen Bevölkerungsverluste dürften eine pronatalistische Politik weiter befördert haben.

Viertens waren nicht nur quantitative Aspekte der Bevölkerungsentwicklung (d.h. die Menge des „Menschenmaterials“) für die Militärs von Interesse, sondern der militärtechnologische Fortschritt erhöhte auch die Qualifikationserfordernisse in den Volksheeren. Dies betraf zum einen die Bedienung und Wartung der technologisch immer ausgereifteren Waffen- und Kommunikationssysteme, wofür zumindest basale Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse erforderlich waren. Zum anderen galt es zum Zweck effektiver Propaganda und Massenindoktrination (Stärkung der Opferbereitschaft von Millionen Soldaten), den vielerorts noch weit verbreiteten Analphabetismus zurückzudrängen. Während die Armeen selbst Bildungseinrichtungen unterhielten, Alphabetisierungsprogramme forcierten und damit sprichwörtlich zu einer „Schule der Nation“ wurden, ist weit weniger klar, ob und inwieweit die staatliche Bildungspolitik im Primärbereich durch militärische Interessen beeinflusst wurde.

Fünftens ist die Sozialpolitik ein probates Mittel zur Generierung von Massenloyalität. Die Instrumentalisierung von Sozialpolitik als Legitimitätsressource ist für autokratische Staaten gut belegt und Bestandteil des dominanten Narrativs zur Genealogie des Wohlfahrtsstaates. Die frühe Sozialpolitik im deutschen Kaiserreich und Österreich (Zisleithanien) war demnach nicht nur ein Mittel zur Eindämmung der Arbeiterbewegung, sondern auch ein Versuch ihrer Anbindung an den autoritären Staat. In Fortsetzung dieses Arguments könnte Sozialpolitik aber auch als Motivationsinstrument zur Hebung der Verteidigungsbereitschaft bzw. als Mittel zur Steigerung militärischer Kampfkraft gesehen werden. Sozialpolitik besitzt auch im Kriegsfall einen militärischen Wert, nicht zuletzt durch ihre Stabilisierungswirkung an der „Heimatfront“.

Während es aus theoretischer Sicht also eine Reihe von plausiblen Gründen gibt, die für einen kausalen Zusammenhang von Wehrpflicht und Sozialpolitik (einschließlich Bildungs- und Steuerpolitik) sowie eine proaktive Rolle des Militärs sprechen, ist weitgehend unerforscht, ob und inwieweit solche Überlegungen und Forderungen von den militärischen Eliten tatsächlich auch vertreten und an die Politik adressiert wurden oder/und sie eher autonom von den politischen Eliten artikuliert und für die Gesetzgebung handlungsleitend wurden. Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung hat sich bislang praktisch nicht mit dem Militär als Akteur beschäftigt. Angestrebt ist ein Vergleich von fünf Ländern über den Zeitraum von ca. 1860 bis ca. 1920, wobei die Ausdehnung des Untersuchungszeitraums bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg zur Prüfung der These dient, dass die Wehrpflicht spätestens im Gefolge eines Massenkriegs Forderungen nach politischer und sozialer Teilhabe nach sich gezogen hat. Anvisiert ist ein Vergleich der Großmächte Deutschland, Österreich-Ungarn (Zisleithanien), Frankreich und Großbritannien sowie der Schweiz als neutraler demokratischer Kleinstaat. Großbritannien ist als Land mit fehlender Wehrpflicht (bis 1916) ein wichtiger Kontrastfall.

Als Quellenfundament dienen in erster Linie die militärischen Fachperiodika, die als wichtigstes Meinungsmedium relativ schnell auf neue militärpolitische Entwicklungen reagierten. Hinzu kommen weitere publizierte Monographien. Einen weiteren wichtigen Beitrag liefern die Parlamentsprotokolle, die in der Regel dank umfassender Datenbanken online zugänglich sind. In Betracht kommen außerdem die Quellenbestände der jeweiligen Ministerien, die für die Sozialgesetzgebung verantwortlich waren. Schließlich sollen auch die militärischen Bestände – hier vor allem der Kriegsministerien – einer Durchsicht unterzogen werden.

Regionen: 
Themen: